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II. BRIEFE AUS DEUTSCHLAND
Wie leben die Deutschen? Aber wenn man schon immer in
Deutschland gelebt hat, fällt es einem oft schwer, darüber zu schreiben.
Elena Peter kommt ursprünglich aus Russland und ist seit kurzem mit
einem Deutschen in der Nähe von Stuttgart verheiratet. In einer Serie
von fiktiven
1
Briefen erzählt sie einige ihrer Erlebnisse über das Leben
in Deutschland.
Liebe Irina,
nun bin ich schon fast ein halbes Jahr in Deutschland. Ich glaube,
dass man Russland mit Deutschland nicht vergleichen kann. Das sind
zwei verschiedene Welten. Als ich das erste Mal
nach Deutschland kam, musste ich vieles für mich
entdecken. Die traditionsreiche deutsche Kultur
und die wunderschönen Landschaften haben mich
tief beeindruckt
2
. Was aber das alltägliche Leben
betrifft, so konnte ich nicht alles sofort verstehen
und so manches war recht lustig.
Die Sprache
Du weißt ja, dass ich als Deutschlehrerin mit abgeschlossener
Hochschulausbildung nach Deutschland kam. Ich dachte, die Sprache
sei für mich kein Problem. Wir haben an der Uni den „Faust" von Goe-
the und „Die Buddenbrooks" von Thomas Mann im Original gelesen,
von denen sogar viele Deutsche keine Ahnung haben. Aber wie ent-
täuscht war ich, dass ich fast nichts verstehen konnte, als die Leute ihr
„Schwäbisch" schwätzten
2b
. Und als ich sie höflich bat, doch bitte
Hochdeutsch zu sprechen, meinten sie, es sei zu anstrengend für sie. Ich
fand es auch lustig, dass einige sogar meinten, sie hätten im Unterschied
zum russischen kyrillischen ein arabisches Alphabet. „Jetzetle isch
Schwäbisch für mi koi Problem, i hab' scho a bissle glernt!"
3
.
Autos und der öffentliche Verkehr
Das Auto, so sagen die Deutschen selbst, ist ihr Lieblingsspiel-
zeug. Ich habe noch nie so viele Autos gesehen, kilometerlange Staus
und vierspurige Autobahnen, auf denen die Autos wie verrückt rasen
4
.
Manchmal ist es auch ein Problem, einen Parkplatz zu finden, und man
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braucht sehr viel Zeit dafür. Einmal beschlossen wir, an einem Werktag
in ein Möbelhaus zu fahren, um ein neues Schlafzimmer auszusuchen.
Gut, dass alle Leute arbeiten, war unser spontaner
5
Gedanke. Neben
dem Gebäude des Möbelhauses befindet sich ein riesengroßes Parkhaus
mit 13 Ebenen. Kannst du dir vorstellen, in welcher Ebene wir einen
Parkplatz gefunden haben? Genau in der dreizehnten, weil die anderen
zwölf voll besetzt waren. Und das alles an einem Werktag! Wahnsinn...
6
Was den Busverkehr betrifft, so bin ich froh, dass die Busse im-
mer pünktlich kommen. Wenn im Busfahrplan steht, dass der Bus um
10.26 Uhr kommt, heißt das, er kommt genau
um 10.26 Uhr. In Russland würde es heißen,
der Bus kommt im besten Fall mit 10 Minu-
ten Verspätung oder in einer halben Stun-
de,... In den deutschen Bussen wird man selten kontrolliert, aber es
lohnt sich nicht, schwarz
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zu fahren. Wird man bei einer der seltenen
Kontrollen ohne gültigen Fahrschein erwischt
8
, muss man zum Beispiel
für die Kurzstrecke den zwanzigfachen Fahrpreis als Strafe bezahlen.
Wenn man aussteigen will, muss man vorher den roten Knopf drücken
und der Wagen hält. Der Preis der Fahrkarte hängt davon ab, wie viele
Zonen in der Stadt, d.h. wie weit man fahren will.
Ich finde es sehr gut, dass die meisten deut-
schen Autofahrer gegenüber Fußgängern sehr höf-
lich sind. Wenn man die Straße am Zebrastreifen
überquert, wird man nicht überfahren, sondern die
Autos halten wirklich an. In Russland sind die
weißen Streifen auf dem Asphalt mehr symbolisch.
Wenn man aber bei einer Ampel die Straße überqueren will, muss man
oft den Knopf drücken, so dass es grün wird.
Von dem, was ich alles in Deutschland entdeckt habe, kann man
sicherlich ein Buch schreiben, aber für heute muss ich erst einmal
Schluss machen. Mehr in meinem nächsten Brief!
Ganz herzliche Grüße! Deine Elena
___________________
1
fiktiv: nicht wirklich, sondern frei erfunden * erdacht
2
jmdn.
beeindrucken: in jemandes Bewusstsein oder Erinnerung einen starken
Eindruck hinterlassen
2b
schwätzen: (südd.) sprechen, reden
3
Jetzt ist
Schwäbisch für mich kein Problem, ich habe schon ein bisschen gelernt.
II. BRIEFE AUS DEUTSCHLAND braucht sehr viel Zeit dafür. Einmal beschlossen wir, an einem Werktag in ein Möbelhaus zu fahren, um ein neues Schlafzimmer auszusuchen. Wie leben die Deutschen? Aber wenn man schon immer in Gut, dass alle Leute arbeiten, war unser spontaner5 Gedanke. Neben Deutschland gelebt hat, fällt es einem oft schwer, darüber zu schreiben. dem Gebäude des Möbelhauses befindet sich ein riesengroßes Parkhaus Elena Peter kommt ursprünglich aus Russland und ist seit kurzem mit mit 13 Ebenen. Kannst du dir vorstellen, in welcher Ebene wir einen einem Deutschen in der Nähe von Stuttgart verheiratet. In einer Serie Parkplatz gefunden haben? Genau in der dreizehnten, weil die anderen von fiktiven1 Briefen erzählt sie einige ihrer Erlebnisse über das Leben zwölf voll besetzt waren. Und das alles an einem Werktag! Wahnsinn...6 in Deutschland. Was den Busverkehr betrifft, so bin ich froh, dass die Busse im- mer pünktlich kommen. Wenn im Busfahrplan steht, dass der Bus um Liebe Irina, 10.26 Uhr kommt, heißt das, er kommt genau nun bin ich schon fast ein halbes Jahr in Deutschland. Ich glaube, um 10.26 Uhr. In Russland würde es heißen, dass man Russland mit Deutschland nicht vergleichen kann. Das sind der Bus kommt im besten Fall mit 10 Minu- zwei verschiedene Welten. Als ich das erste Mal ten Verspätung oder in einer halben Stun- nach Deutschland kam, musste ich vieles für mich de,... In den deutschen Bussen wird man selten kontrolliert, aber es entdecken. Die traditionsreiche deutsche Kultur lohnt sich nicht, schwarz7 zu fahren. Wird man bei einer der seltenen und die wunderschönen Landschaften haben mich Kontrollen ohne gültigen Fahrschein erwischt8, muss man zum Beispiel tief beeindruckt2. Was aber das alltägliche Leben für die Kurzstrecke den zwanzigfachen Fahrpreis als Strafe bezahlen. betrifft, so konnte ich nicht alles sofort verstehen Wenn man aussteigen will, muss man vorher den roten Knopf drücken und so manches war recht lustig. und der Wagen hält. Der Preis der Fahrkarte hängt davon ab, wie viele Zonen in der Stadt, d.h. wie weit man fahren will. Die Sprache Ich finde es sehr gut, dass die meisten deut- Du weißt ja, dass ich als Deutschlehrerin mit abgeschlossener schen Autofahrer gegenüber Fußgängern sehr höf- Hochschulausbildung nach Deutschland kam. Ich dachte, die Sprache lich sind. Wenn man die Straße am Zebrastreifen sei für mich kein Problem. Wir haben an der Uni den „Faust" von Goe- überquert, wird man nicht überfahren, sondern die the und „Die Buddenbrooks" von Thomas Mann im Original gelesen, Autos halten wirklich an. In Russland sind die von denen sogar viele Deutsche keine Ahnung haben. Aber wie ent- weißen Streifen auf dem Asphalt mehr symbolisch. täuscht war ich, dass ich fast nichts verstehen konnte, als die Leute ihr Wenn man aber bei einer Ampel die Straße überqueren will, muss man „Schwäbisch" schwätzten2b. Und als ich sie höflich bat, doch bitte oft den Knopf drücken, so dass es grün wird. Hochdeutsch zu sprechen, meinten sie, es sei zu anstrengend für sie. Ich Von dem, was ich alles in Deutschland entdeckt habe, kann man fand es auch lustig, dass einige sogar meinten, sie hätten im Unterschied sicherlich ein Buch schreiben, aber für heute muss ich erst einmal zum russischen kyrillischen ein arabisches Alphabet. „Jetzetle isch Schluss machen. Mehr in meinem nächsten Brief! Schwäbisch für mi koi Problem, i hab' scho a bissle glernt!"3. Ganz herzliche Grüße! Deine Elena ___________________ Autos und der öffentliche Verkehr 1 fiktiv: nicht wirklich, sondern frei erfunden * erdacht 2 jmdn. Das Auto, so sagen die Deutschen selbst, ist ihr Lieblingsspiel- beeindrucken: in jemandes Bewusstsein oder Erinnerung einen starken zeug. Ich habe noch nie so viele Autos gesehen, kilometerlange Staus Eindruck hinterlassen 2bschwätzen: (südd.) sprechen, reden 3 Jetzt ist und vierspurige Autobahnen, auf denen die Autos wie verrückt rasen4. Schwäbisch für mich kein Problem, ich habe schon ein bisschen gelernt. Manchmal ist es auch ein Problem, einen Parkplatz zu finden, und man 41 42
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