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– Kai und die Liebe zu den Modellen, 1979
– Die Frau im Mond, 1982 -Kopftänzer, 1984
– Herrin der Tiere, 1986
– Über die Verhältnisse, 1987
– Amoralische Kinderklapper, 1969 -lda -und ob, 1972
Günter Kunert
Mann über Bord
Der Wind wehte nicht so stark. Bei einem Schlingern des Schiffes
verlor der Matrose, angetrunken und leichtfertig tänzeld, das Gleichge-
wicht und stürzte von Deck. Der Mann am Ruder sah den Sturz und gab
sofort Alarm. Der Kapitän befahl, ein Boot auf das mäßig bewegte
Wasser herabzulassen, den langsam forttreiben -den Matrosen zu retten.
Die Mannschaft legte sich kräftig in die Riemen, und schon nach
wenigen Schlägen erreichten sie den um Hilfe Rufenden. Sie warfen
ihm einen Rettungsring zu, an den er sich klammmerte. Im näher
schaukelnden Boot richtete sich im Bug einer auf, um den im Wasser
Treibenden herauszufischen, doch verlor der Retter selbst den Halt und
fiel in die Fluten, während eine ungeahnte hohe Woge das Boot seitlich
unterlief und umwarf. Der Kapitän gab Anweisung, auf die Schwim-
menden und Schreienden mit dem Dampfer zuzufahren. Doch kaum
hatte man damit begonnen, erschütterte ein Stoß das Schiff, das sich
schon zur Seite legte, sterbensmüde, den stählernden Körper aufgerissen
von einem zackigen Korallenriff, das sich knapp unter der Oberfläche
verbarg. Der Kapitän versackte wie üblich mit dem tödlich verwundeten
Schiff. Er blieb nicht das einzige Opfer: Haie näherten sich und ver-
schlangen, wen sie erwischten. Wenige der Seeleute gelangten in die
Rettungsboote, um ein paar Tage später auf der unübersehbaren Menge
salziger Flüs -sigkeit zu verdursten. Der Matrose aber, der vom Damp-
fer gestürzt war, geriet unversehrt in eine Drift, die ihn zu einer Insel
trug, auf deren Strand sie den Erschöpften warf; dort wurde er gefun-
den, gepflegt, gefeiert als der einzig Überlebende der Katastrophe, die
er als die Folge einer Kesselexplosion schilderte, welche ihn weit in die
Lüfte geschleudert habe, so daß er aus der Höhe zusehen konnte, wie
die Trümmer mit Mann und Maus versanken. Von dieser Geschichte
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konnte der einzig Überlebende auf jener Insel trefflich leben; Mitleid
und das Hochgefühl, einen seines Schicksals zu kennen, ernährten ihn.
Nur schien den Leuten, daß sein Verstand gelitten haben mußte: Wenn
ein Fremder auftauchte, verschwand der Schiffbrüchige, erblassend und
zitternd und erfüllt von einer Furcht, die keiner deuten konnte: ein stetes
Geheimnis und daher ein steter Gesprächsstoff für die langen Stunden
der Siesta.
Marie Luise Kaschnitz
Das letzte Buch
Das Kind kam heute spät aus der Schule heim. Wir waren im Muse-
um, sgte es. Wir haben das letzte Buch ge -sehen. Unwillkürlich blickte
ich auf die lange Wand unseres Wohnzimmers, die früher einmal meh-
rere Regale voller Bücher verdeckt haben, die aber jetzt leer ist und
weiß getüncht, damit das neue plastische Fernsehen darauf erscheinen
kann. Ja und, sagte ich erschrocken, was war das für ein Buch? Eben ein
Buch, sagte das Kind. Es hat einen Deckel und einen Rücken und Sei-
ten, die man umblättern kann. Und was war drin gedruckt, fragte ich.
Das kann ich doch nicht wissen, sagte das Kind. Wir durften es nicht
anfassen. Es liegt unter Glas. Schade, sagte ich. Aber das Kind war
schon weggesprungen, um an den Knöpfen des Fernsehapparates zu
drehen. Die große weiße Wand fing an sich zu beleben, sie zeigte eine
Herde von Elefanten, die im Dschungel eine Furt durchqueren. Der trü-
be Fluß schmatzte, die eingeborenen Treiber schrieen. Das Kind hockte
auf dem Teppich und sah die riesigen Tiere mit Entzücken an. Was
kann da schon drinstehen, murmelte es, in so einem Buch.
Heinrich Böll
Im Lande der Rujuks
Die großen Fähigkeiten von James Wodruff sind schon früh einem
kleinen Kreis von Spezialisten bekannt geworden, und wenn ich kurz
von diesen Fähigkeiten berichte, statte ich eine alte Dankesschuld ab,
denn immerhin - obwohl ich seit Jahren mit ihm verkracht bin -, James
Wodruff war mein Lehrer: Er hatte (hat noch) den einzigen Lehrstuhl
für Rujukforschung inne, den es auf dieser Welt gibt, gilt mit Recht als
– Kai und die Liebe zu den Modellen, 1979 konnte der einzig Überlebende auf jener Insel trefflich leben; Mitleid – Die Frau im Mond, 1982 -Kopftänzer, 1984 und das Hochgefühl, einen seines Schicksals zu kennen, ernährten ihn. – Herrin der Tiere, 1986 Nur schien den Leuten, daß sein Verstand gelitten haben mußte: Wenn – Über die Verhältnisse, 1987 ein Fremder auftauchte, verschwand der Schiffbrüchige, erblassend und – Amoralische Kinderklapper, 1969 -lda -und ob, 1972 zitternd und erfüllt von einer Furcht, die keiner deuten konnte: ein stetes Geheimnis und daher ein steter Gesprächsstoff für die langen Stunden der Siesta. Günter Kunert Mann über Bord Marie Luise Kaschnitz Der Wind wehte nicht so stark. Bei einem Schlingern des Schiffes Das letzte Buch verlor der Matrose, angetrunken und leichtfertig tänzeld, das Gleichge- wicht und stürzte von Deck. Der Mann am Ruder sah den Sturz und gab Das Kind kam heute spät aus der Schule heim. Wir waren im Muse- sofort Alarm. Der Kapitän befahl, ein Boot auf das mäßig bewegte um, sgte es. Wir haben das letzte Buch ge -sehen. Unwillkürlich blickte Wasser herabzulassen, den langsam forttreiben -den Matrosen zu retten. ich auf die lange Wand unseres Wohnzimmers, die früher einmal meh- Die Mannschaft legte sich kräftig in die Riemen, und schon nach rere Regale voller Bücher verdeckt haben, die aber jetzt leer ist und wenigen Schlägen erreichten sie den um Hilfe Rufenden. Sie warfen weiß getüncht, damit das neue plastische Fernsehen darauf erscheinen ihm einen Rettungsring zu, an den er sich klammmerte. Im näher kann. Ja und, sagte ich erschrocken, was war das für ein Buch? Eben ein schaukelnden Boot richtete sich im Bug einer auf, um den im Wasser Buch, sagte das Kind. Es hat einen Deckel und einen Rücken und Sei- Treibenden herauszufischen, doch verlor der Retter selbst den Halt und ten, die man umblättern kann. Und was war drin gedruckt, fragte ich. fiel in die Fluten, während eine ungeahnte hohe Woge das Boot seitlich Das kann ich doch nicht wissen, sagte das Kind. Wir durften es nicht unterlief und umwarf. Der Kapitän gab Anweisung, auf die Schwim- anfassen. Es liegt unter Glas. Schade, sagte ich. Aber das Kind war menden und Schreienden mit dem Dampfer zuzufahren. Doch kaum schon weggesprungen, um an den Knöpfen des Fernsehapparates zu hatte man damit begonnen, erschütterte ein Stoß das Schiff, das sich drehen. Die große weiße Wand fing an sich zu beleben, sie zeigte eine schon zur Seite legte, sterbensmüde, den stählernden Körper aufgerissen Herde von Elefanten, die im Dschungel eine Furt durchqueren. Der trü- von einem zackigen Korallenriff, das sich knapp unter der Oberfläche be Fluß schmatzte, die eingeborenen Treiber schrieen. Das Kind hockte verbarg. Der Kapitän versackte wie üblich mit dem tödlich verwundeten auf dem Teppich und sah die riesigen Tiere mit Entzücken an. Was Schiff. Er blieb nicht das einzige Opfer: Haie näherten sich und ver- kann da schon drinstehen, murmelte es, in so einem Buch. schlangen, wen sie erwischten. Wenige der Seeleute gelangten in die Rettungsboote, um ein paar Tage später auf der unübersehbaren Menge Heinrich Böll salziger Flüs -sigkeit zu verdursten. Der Matrose aber, der vom Damp- Im Lande der Rujuks fer gestürzt war, geriet unversehrt in eine Drift, die ihn zu einer Insel Die großen Fähigkeiten von James Wodruff sind schon früh einem trug, auf deren Strand sie den Erschöpften warf; dort wurde er gefun- kleinen Kreis von Spezialisten bekannt geworden, und wenn ich kurz den, gepflegt, gefeiert als der einzig Überlebende der Katastrophe, die von diesen Fähigkeiten berichte, statte ich eine alte Dankesschuld ab, er als die Folge einer Kesselexplosion schilderte, welche ihn weit in die denn immerhin - obwohl ich seit Jahren mit ihm verkracht bin -, James Lüfte geschleudert habe, so daß er aus der Höhe zusehen konnte, wie Wodruff war mein Lehrer: Er hatte (hat noch) den einzigen Lehrstuhl die Trümmer mit Mann und Maus versanken. Von dieser Geschichte für Rujukforschung inne, den es auf dieser Welt gibt, gilt mit Recht als 99 100
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