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103
Ich zog müde mein Boot auf den Strand, entkorkte die Kognakfla-
sche meiner transportablen Apotheke und nahm einen tiefen Schluck.
Wäre ich ein Dichter, würde ich sagen: Ein Traum brach mir entzwei,
obwohl Träume ja nicht brechen können.
Ich wartete ab, bis sich das Postboot entfernt hatte, schulterte mein
Gepäck und ging auf ein Gebäude zu, das die schlichte Aufschrift “Bar”
trug. Ein bärtiger Rujuk hockte dort auf einem Stuhl und las eine Post-
karte. Ich sank erschöpft auf eine hölzerne Bank und sagte leise: “Doi-
doi kruw mäh.” (Der Wind hat meine Kehle ausgedörrt.) , Der Alte leg-
te die Karte beiseite, sah mich erstaunt an und sagte in einem Gemisch
aus Rujuk und Film-Englisch: “Komm her, mein Junge, sprich deutlich.
Willste Bier oder Whisky?” “Whisky”, sagte ich matt.
Er stand auf, schob mir die Postkarte zu und sagte: “Da lies, was
mein Enkel mir schreibt.”
Die Karte trug den Poststempel Hollywood und auf der Rückseite
stand ein einziger Satz: Zeuger meines Erzeugers, komm übers große
Wasser, hier rollen die Dollars.
Ich blieb bis zur Ankunft des nächsten Postbootes auf der Insel, saß
abends in der Bar und vertrank meine Travellerschecks. Kein Einziger
dort sprach mehr reines Rujuk, nur wurde oft der Name einer Frau er-
wähnt, die ich zuerst für eine mythische Figur hielt, deren Ursprung mir
aber inzwischen klar geworden ist: Zarah Leander.
Ich musste gestehen, dass auch ich die Rujukforschung aufgab. Zwar
flog ich zu Wodruff zurück und ließ mich mit ihm noch auf einen Streit
ein über die Anwendung der Vokabel “buhal”, denn ich blieb dabei,
dass es Wasser bedeute, Wodruff aber versteifte sich darauf, es bedeute
Liebe.
Doch längst schon sind mir diese Probleme nicht mehr so wichtig.
Ich habe mein Landhaus vermietet, züchte Obst und spiele immer noch
mit dem Gedanken mein medizinisches Studium durchs Staatsexamen
zu krönen, aber ich bin nun fünfundvierzig geworden, und was ich einst
mit wissenschaftlichem Ernst betrieb, betreibe ich nun als Liebhaberei,
worüber Wodruff besonders empört ist. Während der Arbeit an meinen
Obstbäumen singe ich Rujuklieder vor mich hin, besonders das eine
liebe ich:
104
Woi suhal buwacha
bruwal nui loha
graga bahu, graga wiuwa
moha deiwa buwacha.
(Warum treibt es dich in die Ferne, mein Sohn,
haben dich alle guten Geister verlassen?
Keine Fische gibt es dort, keine Gnade,
und deine Mutter weint um ihren Sohn.)
Auch zum Fluchen eignet sich die Rujuksprache. Wenn die Groß-
händler mich betrügen wollen, sage ich leise vor mich hin: “Graga
weita” (keinen Segen soll es dir bringen) oder: “Pichal gromchit” (die
Gräte soll dir im Halse stecken bleiben), einen der
schlimmsten Flüche der Rujuks.
Aber wer auf dieser Erde versteht schon Rujuk, außer Wodruff, dem
ich hin und wieder eine Kiste Äpfel schicke und eine Postkarte mit den
Worten: “Wahu bahui” (Verehrter Meister, du irrst), worauf er mir zu
antworten pflegt, ebenfalls auf einer Postkarte: “Hugai” (Abtrünniger),
und ich zünde mir meine Pfeife an und blicke auf den Rhein hinunter,
der schon so lange da unten vorüberfließt.
Reiner Kunze
Fünfzehn
Sie trägt einen Rock, den kann man nicht beschreiben, denn schon
ein einziges Wort wäre zu lang. Ihr Schal dagegen ähnelt einer Doppel-
schleppe: lässig um den Hals geworfen, fällt er in ganzer Breite über
Schienbein und Wade. (Am liebsten hätte sie einen Schal, an dem min-
destens drei Großmütter zweieinhalb Jahre gestrickt haben eine Art Ni-
agara Fall aus Wolle. Ich glaube, von einem solchen Schal würde sie
behaupten, daß er genau ihrem Lebensgefühl entspricht. Doch wer hat
vor zweieinhalb Jahren wissen können, daß solche Schals heute Mode
sein würden.) Zum Schal trägt sie Tennisschuhe, auf denen sich jeder
ihrer Freunde und jede ihrer Freundinnen unterschrieben haben. Sie ist
fünfzehn Jahre alt und gibt nichts auf die Meinung uralter Leute das
sind alle Leute über dreißig.
Ich zog müde mein Boot auf den Strand, entkorkte die Kognakfla- Woi suhal buwacha sche meiner transportablen Apotheke und nahm einen tiefen Schluck. bruwal nui loha Wäre ich ein Dichter, würde ich sagen: Ein Traum brach mir entzwei, graga bahu, graga wiuwa obwohl Träume ja nicht brechen können. moha deiwa buwacha. Ich wartete ab, bis sich das Postboot entfernt hatte, schulterte mein (Warum treibt es dich in die Ferne, mein Sohn, Gepäck und ging auf ein Gebäude zu, das die schlichte Aufschrift “Bar” haben dich alle guten Geister verlassen? trug. Ein bärtiger Rujuk hockte dort auf einem Stuhl und las eine Post- Keine Fische gibt es dort, keine Gnade, karte. Ich sank erschöpft auf eine hölzerne Bank und sagte leise: “Doi- und deine Mutter weint um ihren Sohn.) doi kruw mäh.” (Der Wind hat meine Kehle ausgedörrt.) , Der Alte leg- te die Karte beiseite, sah mich erstaunt an und sagte in einem Gemisch Auch zum Fluchen eignet sich die Rujuksprache. Wenn die Groß- aus Rujuk und Film-Englisch: “Komm her, mein Junge, sprich deutlich. händler mich betrügen wollen, sage ich leise vor mich hin: “Graga Willste Bier oder Whisky?” “Whisky”, sagte ich matt. weita” (keinen Segen soll es dir bringen) oder: “Pichal gromchit” (die Er stand auf, schob mir die Postkarte zu und sagte: “Da lies, was Gräte soll dir im Halse stecken bleiben), einen der mein Enkel mir schreibt.” schlimmsten Flüche der Rujuks. Die Karte trug den Poststempel Hollywood und auf der Rückseite Aber wer auf dieser Erde versteht schon Rujuk, außer Wodruff, dem stand ein einziger Satz: Zeuger meines Erzeugers, komm übers große ich hin und wieder eine Kiste Äpfel schicke und eine Postkarte mit den Wasser, hier rollen die Dollars. Worten: “Wahu bahui” (Verehrter Meister, du irrst), worauf er mir zu Ich blieb bis zur Ankunft des nächsten Postbootes auf der Insel, saß antworten pflegt, ebenfalls auf einer Postkarte: “Hugai” (Abtrünniger), abends in der Bar und vertrank meine Travellerschecks. Kein Einziger und ich zünde mir meine Pfeife an und blicke auf den Rhein hinunter, dort sprach mehr reines Rujuk, nur wurde oft der Name einer Frau er- der schon so lange da unten vorüberfließt. wähnt, die ich zuerst für eine mythische Figur hielt, deren Ursprung mir aber inzwischen klar geworden ist: Zarah Leander. Ich musste gestehen, dass auch ich die Rujukforschung aufgab. Zwar Reiner Kunze flog ich zu Wodruff zurück und ließ mich mit ihm noch auf einen Streit Fünfzehn ein über die Anwendung der Vokabel “buhal”, denn ich blieb dabei, Sie trägt einen Rock, den kann man nicht beschreiben, denn schon dass es Wasser bedeute, Wodruff aber versteifte sich darauf, es bedeute ein einziges Wort wäre zu lang. Ihr Schal dagegen ähnelt einer Doppel- Liebe. schleppe: lässig um den Hals geworfen, fällt er in ganzer Breite über Doch längst schon sind mir diese Probleme nicht mehr so wichtig. Schienbein und Wade. (Am liebsten hätte sie einen Schal, an dem min- Ich habe mein Landhaus vermietet, züchte Obst und spiele immer noch destens drei Großmütter zweieinhalb Jahre gestrickt haben eine Art Ni- mit dem Gedanken mein medizinisches Studium durchs Staatsexamen agara Fall aus Wolle. Ich glaube, von einem solchen Schal würde sie zu krönen, aber ich bin nun fünfundvierzig geworden, und was ich einst behaupten, daß er genau ihrem Lebensgefühl entspricht. Doch wer hat mit wissenschaftlichem Ernst betrieb, betreibe ich nun als Liebhaberei, vor zweieinhalb Jahren wissen können, daß solche Schals heute Mode worüber Wodruff besonders empört ist. Während der Arbeit an meinen sein würden.) Zum Schal trägt sie Tennisschuhe, auf denen sich jeder Obstbäumen singe ich Rujuklieder vor mich hin, besonders das eine ihrer Freunde und jede ihrer Freundinnen unterschrieben haben. Sie ist liebe ich: fünfzehn Jahre alt und gibt nichts auf die Meinung uralter Leute das sind alle Leute über dreißig. 103 104
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