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Könnte einer von ihnen sie verstehen, selbst wenn er sich bemühen
würde? Ich bin über dreißig.
Wenn sie Musik hört, vibrieren noch im übernächsten Zimmer die
Türfüllungen. Ich weiß, diese Laulslärke bedeutet für sie Lustgewinn.
Teilbefriedigung ihres Bedürfnisses nach Protest. Überschallverdrän-
gung im angenehmer logischer Schlüsse. Trance. Dennoch ertappe ich
mich immer wieder bei einer Kurzschlussreaktion: Ich spüre plötzlich
den Drang in mir, sie zu bitten, das Radio leiser zu stellen. Wie also
könnte ich sie verstehen bei diesem Nervensystem?
Noch hinderlicher ist die Neigung, allzu hochragende Gedanken er-
den zu wollen.
Auf den Möbeln ihres Zimmers flockt der Staub. Unter ihrem Bett
wallt er. Dazwischen liegen Haarklemmen, ein Taschenspiegel,
Knautschlacklederreste, Schnell heiter, Apfelstiele, ein Plastikbeutel mit
der Aufschrift “Der Duft der großen weiten Welt”, angelesene und übe-
reinandergestülpte Bücher (Hesse, Karl May, Hölderlin), Jeans mit in
sich gekehrten Hosenbeinen, halb und dreiviertel gewendete Pullover,
Strumpfhosen, NyIon und benutzte Taschentücher. (Die Ausläufer die-
ser Hügellandschall erstrecken sich bis ins Bad und in die Küche.) ich
weiß: Sie will sich nicht den Nichtigkeiten des Lebens ausliefern. Sie
fürchtet die Einengung des Blicks, des Geistes. Sie fürchtet die Ab-
stumpfung der Seele durch Wiederholung! Außerdem wägt sie dieTä-
tigkeilen gegeneinander ab nach dem Maß an Unlust gefühlen, das mit
ihnen verbunden sein könnte, und betrachtet es als Ausdruck persönli-
cher Freiheil, die unluslintensiveren zu ignorieren. Doch nicht nur, daß
ich ab und zu heimlich ihr Zimmer wische, um ihre
Mutter vor Härzkrämpfen zu bewahren - ich muss mich auch der
Versuchung erwehren, diese Nichtigkeiten ins Blickfeld zu rücken und
auf die Ausbildung innerer Zwänge hinzuwirken.
Einmal bin ich dieser Versuchung erlegen.
Sie ekelt sich schrecklich vor Spinnen. Also sagte ich: ..Unter dei-
nem Bett waren zwei Spinnennester.”
Ihre mit lila Augentusche nachgedunkelten Lider verschwanden hin-
ter den hervortretenden Augäpfeln, und sie begann “Iix! Ääx! Uh!” zu
rufen, so dass ihre Eng- lischlehrerin, wäre sie zugegen gewesen, von
soviel Kehlkopfknacklauten – englisch “glottal stops” – ohnmächtig
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geworden wäre. “Und warum bauen die ihre Nester gerade bei mir un-
term Bett?”
“Dort werden sie nicht oft gestört.” Direkter wollte ich nicht werden,
und sie ist intelligent.
Am Abend hatte sie ihr inneres Gleichgewicht wiedergewonnen. Im
Bett liegend, machte sie einen fast überlegenen Eindruck. Ihre Haus-
schuhe standen auf dem Klavier. “Die stelle ich jetzt immer dorthin”,
sagte sie. “Damit keine Spinnen hineinkriechen können.”
Reiner Kunze
R. Kunze wurde 1933 in Oelsnitz (Erzgebirge) geboren. Er studierte
in Leipzig Philosophie und Publizislik. Seit 1959 arbeitet er als frei-
schaffender Schriftsteller und Übersetzer. 1977 siedelte er aus politi-
schen Gründen aus der ehemaligen DDR in die Bundesrepublik über.
1977 erhielt er den Georg Büchner-Preis. Fr hat Lyrik, Kurzprosa,
Kinderbücher und Essays geschrieben:
- Die wunderbaren Jahre. 1976
- Sensible Wege. 1969
- Zimmerlautstärke, 1972
- auf eigene hoffnung, 1981
- eines jeden einziges leben. 1986
Johann Wolfgang von Goethe
Das Erlebnis des Marschalls von Bassompierre
Seit fünf oder sechs Monaten hatte ich bemerkt, sooft ich über die
kleine Brücke ging – denn zu der Zeit war der Pont neuf noch nicht er-
bauet-, daß eine schöne Krämerin, deren Laden an einem Schilde mit
zwei Engeln kenntlich war, sich tief und wiederholt vor mir neigte und
mir so weit nachsah, als sie nur konnte. Ihr Betragen fiel mir auf, ich
sah sie gleichfalls an und dankte ihr sorgfältig. Einst ritt ich von Fontai-
nebleau nach Paris, und als ich wieder die kleine Brücke heraufkam, trat
sie an ihre Ladentüre und sagte zu mir, indem ich vorbeiritt: “Mein
Herr, Ihre Dienerin!” Ich erwiderte ihren Gruß, und indem ich mich von
Könnte einer von ihnen sie verstehen, selbst wenn er sich bemühen geworden wäre. “Und warum bauen die ihre Nester gerade bei mir un- würde? Ich bin über dreißig. term Bett?” Wenn sie Musik hört, vibrieren noch im übernächsten Zimmer die “Dort werden sie nicht oft gestört.” Direkter wollte ich nicht werden, Türfüllungen. Ich weiß, diese Laulslärke bedeutet für sie Lustgewinn. und sie ist intelligent. Teilbefriedigung ihres Bedürfnisses nach Protest. Überschallverdrän- Am Abend hatte sie ihr inneres Gleichgewicht wiedergewonnen. Im gung im angenehmer logischer Schlüsse. Trance. Dennoch ertappe ich Bett liegend, machte sie einen fast überlegenen Eindruck. Ihre Haus- mich immer wieder bei einer Kurzschlussreaktion: Ich spüre plötzlich schuhe standen auf dem Klavier. “Die stelle ich jetzt immer dorthin”, den Drang in mir, sie zu bitten, das Radio leiser zu stellen. Wie also sagte sie. “Damit keine Spinnen hineinkriechen können.” könnte ich sie verstehen bei diesem Nervensystem? Noch hinderlicher ist die Neigung, allzu hochragende Gedanken er- den zu wollen. Reiner Kunze Auf den Möbeln ihres Zimmers flockt der Staub. Unter ihrem Bett R. Kunze wurde 1933 in Oelsnitz (Erzgebirge) geboren. Er studierte wallt er. Dazwischen liegen Haarklemmen, ein Taschenspiegel, in Leipzig Philosophie und Publizislik. Seit 1959 arbeitet er als frei- Knautschlacklederreste, Schnell heiter, Apfelstiele, ein Plastikbeutel mit schaffender Schriftsteller und Übersetzer. 1977 siedelte er aus politi- der Aufschrift “Der Duft der großen weiten Welt”, angelesene und übe- schen Gründen aus der ehemaligen DDR in die Bundesrepublik über. reinandergestülpte Bücher (Hesse, Karl May, Hölderlin), Jeans mit in 1977 erhielt er den Georg Büchner-Preis. Fr hat Lyrik, Kurzprosa, sich gekehrten Hosenbeinen, halb und dreiviertel gewendete Pullover, Kinderbücher und Essays geschrieben: Strumpfhosen, NyIon und benutzte Taschentücher. (Die Ausläufer die- - Die wunderbaren Jahre. 1976 ser Hügellandschall erstrecken sich bis ins Bad und in die Küche.) ich - Sensible Wege. 1969 weiß: Sie will sich nicht den Nichtigkeiten des Lebens ausliefern. Sie - Zimmerlautstärke, 1972 fürchtet die Einengung des Blicks, des Geistes. Sie fürchtet die Ab- - auf eigene hoffnung, 1981 stumpfung der Seele durch Wiederholung! Außerdem wägt sie dieTä- - eines jeden einziges leben. 1986 tigkeilen gegeneinander ab nach dem Maß an Unlust gefühlen, das mit ihnen verbunden sein könnte, und betrachtet es als Ausdruck persönli- cher Freiheil, die unluslintensiveren zu ignorieren. Doch nicht nur, daß Johann Wolfgang von Goethe ich ab und zu heimlich ihr Zimmer wische, um ihre Das Erlebnis des Marschalls von Bassompierre Mutter vor Härzkrämpfen zu bewahren - ich muss mich auch der Seit fünf oder sechs Monaten hatte ich bemerkt, sooft ich über die Versuchung erwehren, diese Nichtigkeiten ins Blickfeld zu rücken und kleine Brücke ging – denn zu der Zeit war der Pont neuf noch nicht er- auf die Ausbildung innerer Zwänge hinzuwirken. bauet-, daß eine schöne Krämerin, deren Laden an einem Schilde mit Einmal bin ich dieser Versuchung erlegen. zwei Engeln kenntlich war, sich tief und wiederholt vor mir neigte und Sie ekelt sich schrecklich vor Spinnen. Also sagte ich: ..Unter dei- mir so weit nachsah, als sie nur konnte. Ihr Betragen fiel mir auf, ich nem Bett waren zwei Spinnennester.” sah sie gleichfalls an und dankte ihr sorgfältig. Einst ritt ich von Fontai- Ihre mit lila Augentusche nachgedunkelten Lider verschwanden hin- nebleau nach Paris, und als ich wieder die kleine Brücke heraufkam, trat ter den hervortretenden Augäpfeln, und sie begann “Iix! Ääx! Uh!” zu sie an ihre Ladentüre und sagte zu mir, indem ich vorbeiritt: “Mein rufen, so dass ihre Eng- lischlehrerin, wäre sie zugegen gewesen, von Herr, Ihre Dienerin!” Ich erwiderte ihren Gruß, und indem ich mich von soviel Kehlkopfknacklauten – englisch “glottal stops” – ohnmächtig 105 106
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