Методические указания для чтения и анализа художественных произведений современных немецкоязычных авторов по теме "Женщины в современном обществе" для студентов 4 курса отделения немецкого языка факультета филологии и журналистики - 12 стр.

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löscht nicht nur den Durst, es stillt auch den Lärm in meinem Kopf, das kenn ich doch.
Da hast du neben mir gesessen, Mutter, und wenn ich den Kopf drehte, so wie jetzt, sah
ich die Fensteröffnung, wie hier, wo bin ich, da war doch kein Feigenbaum, da stand
doch mein geliebter Nussbaum. Hast du gewusst, dass man sich nach einem Baum
sehnen kann, Mutter, ich war ein Kind, fast ein Kind, ich hatte zum erstenmal geblutet,
aber ich war doch nicht deswegen krank, du hast doch nicht deswegen bei mir gesessen
und mir die Zeit vertrieben, den Kräuterumschlag auf Brust und Stirn gewechselt, mir
meine Hände dicht vor die Augen gehalten und mir die Linien in den Handflächen
gezeigt, zuerst die linke, dann die rechte, wie verschieden, du hast mich gelehrt, sie zu
lesen, oft habe ich mich ihrer Botschaft entzogen, habe die Hände zu Fäusten geballt,
habe sie ineinander verschlungen, habe sie auf Wunden gelegt, habe sie zu der Göttin
aufgehoben, habe das Wasser vom Brunnen getragen, das Leinen mit unseren Mustern
gewebt, habe sie in den warmen Haaren der Kinder vergraben. Einmal, Mutter, in einer
anderen Zeit, habe ich mit meinen beiden Händen zum Abschied deinen Kopf um-
spannt, seine Form ist als Abdruck in meinen Handflächen geblieben, auch Hände
haben ein Gedächtnis. Jeden Flecken von Jasons Körper haben diese Hände abgetastet,
erst heute nacht, aber ist denn jetzt Morgen, und welcher Tag.
Ruhig. Ganz ruhig, eins nach dem anderen. Besinn dich. Wo bist du. Ich bin in
Korinth. Der Feigenbaum vor der Fensteröffnung der Lehmhütte war mir ein Trost, als
sie mich aus dem Palast des Königs Kreon wiesen. Warum? Das kommt später. Ist das
Fest vorüber, oder muss ich noch hingehen, wie ich es Jason schließlich zugesagt habe.
Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen, Medea, von diesem Fest hängt viel ab. Nicht
für mich, habe ich ihm gesagt, und das weißt du auch, aber meinetwegen, ich komme,
habe ich zu ihm gesagt, aber das ist das letzte Mal. Du hast mir damals jene winzige
Linie in der linken Hand mit dem Fingernagel nachgezogen, du hast mir gesagt, was es
bedeuten würde, wenn sie irgendwann einmal die Lebenslinie kreuzte, du hast mich gut
gekannt, Mutter, lebst du noch.
Sieh her. Da kreuzt diese winzige Linie, die sich vertieft hat, die andere. Pass auf,
hast du gesagt, Hochmut lässt dein Inneres erkalten, mag ja sein, aber Schmerz, Mutter,
Schmerz hinterlässt auch eine wüste Spur. Wem sage ich das. Wie dunkel es auch
gewesen ist, als wir an Bord der »Argo« gingen, deine Augen habe ich gesehen und
nicht vergessen können, ihr Blick brannte mir ein Wort ein, das ich vorher nicht kannte:
Schuld.
Jetzt klirrt es wieder, es ist das Fieber, aber mir ist doch, als hätte ich an dieser
Tafel gesessen, nicht gerade neben Jason, war das gestern, bleib hier, Mutter, woher
kommt diese Müdigkeit, ich will nur noch ein wenig schlafen, gleich steh ich auf, ich
ziehe das weiße Kleid an, das ich selbst gewebt und genäht habe, wie du es mir
beigebracht hast, dann gehen wir wieder gemeinsam durch die Gänge unseres Palastes,
und ich werde froh sein, wie ich es als Kind gewesen bin, wenn du mich an die Hand
genommen und auf den Innenhof geführt hast, zu dem Brunnen in der Mitte, weißt du,
dass ich nirgendwo einen schöneren angetroffen habe, und eine der Frauen zieht uns den
Holzeimer hoch, und ich schöpfe das Quellwasser und trinke, trinke und werde gesund.