Типология художественных текстов. Быкова О.И. - 36 стр.

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Text 9
Wolf Biermann
Das Märchen vom kleinen Herrn Moritz, der eine Glatze kriegte
Es war einmal ein kleiner älterer Herr, der hieß Moritz und hatte sehr große
Schuhe und einen schwarzen Mantel dazu und einen langen schwarzen
Regenschirmstock, und damit ging er oft spazieren.
Als nun der lange Winter kam, der längste Winter auf der Welt in Berlin,
da wurden die Menschen allmählich böse.
Die Autofahrer schimpften, weil die Straßen so glatt waren, daß die Autos
ausrutschten. Die Verkehrspolizisten schimpften, weil sie immer auf der kalten
Straße rumstehen mussten. Die Verkäuferinnen schimpften, weil ihre
Verkaufsläden so kalt waren. Die Männer von der Müllabfuhr schimpften, weil
der Schnee gar nicht alle wurde. Der Milchmann schimpfte, weil ihm die Milch
in den Milchkannen zu Eis fror. Die Kider schimpften, weil ihnen die Ohren
ganz rot gefroren waren, und die Hunde bellten vor Wut über die Kälte schon
gar nicht mehr, sondern zitterten nur noch und klapperten mit den Zähnen vor
Kälte, und das sah auch sehr böse aus.
An einem solchen kalten Schneetag ging Herr Moritz mit seinem blauen
Hut spazieren, und er dachte: «Wie böse die Menschen alle sind, es wird höchste
Zeit, daß wieder Sommer wird und die Blumen wachsen».
Und als er so durch die schimpfenden Leute in der Markthalle ging,
wuchsen ihm auf dem Kopf ganz schnell und ganz viel Krokusse, Tulpen und
Maiglöckchen und Rosen und Nelken, auch Löwenzahn und Margeriten. Er
merkte es aber erst gar nicht, und dabei war schon längst sein Hut vom Kopf
hochgegangen, weil die Blumen immer mehr wurden und auch immer länger.
Da blieb vor ihm eine Frau stehen und sagte: «Oh, Ihnen wachsen aber
schöne Blumen auf dem Kopf!» «Mir Blumen auf dem Kopf!» sagte Herr
Moritz, «so was gibt es gar nicht!»
«Doch! Schauen Sie hier in das Schaufenster, Sie können sich darin
spiegeln. Darf ich eine Blume abpflücken?»
Und Herr Moritz sah im Schaufensterspiegelbild, daß wirklich Blumen auf
seinem Kopf wuchsen, bunte und große, vierlei Art, und er sagte: «Aber bitte,
wenn Sie eine wollen...».
«Ich möchte gerne eine kleine Rose», sagte die Frau und pflückte sich eine.
«Und ich eine Nelke für meinen Bruder», sagte ein kleines Mädchen, und
Herr Moritz bückte sich damit das Mädchen ihm auf dem Kopf langen konnte.
Er brauchte sich aber nicht so sehr tief zu bücken, denn er war etwas kleiner als
andere Männer.
Und viele Leute kamen und brachen sich Blumen vom Kopf des kleinen
Herrn Moritz, und es tat ihm gar nicht weh, und die Blumen wuchsen immer
gleich nach, und es kribbelte so schön am Kopf, als ob ihn jemand freundlich
streichelte; und Herr Moritz war froh, daß er den Leuten mitten im kalten Winter
Blumen geben konnte. Immer mehr Menschen kamen zusammen und lachten
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     Text 9
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      Das Märchen vom kleinen Herrn Moritz, der eine Glatze kriegte
      Es war einmal ein kleiner älterer Herr, der hieß Moritz und hatte sehr große
Schuhe und einen schwarzen Mantel dazu und einen langen schwarzen
Regenschirmstock, und damit ging er oft spazieren.
      Als nun der lange Winter kam, der längste Winter auf der Welt in Berlin,
da wurden die Menschen allmählich böse.
      Die Autofahrer schimpften, weil die Straßen so glatt waren, daß die Autos
ausrutschten. Die Verkehrspolizisten schimpften, weil sie immer auf der kalten
Straße rumstehen mussten. Die Verkäuferinnen schimpften, weil ihre
Verkaufsläden so kalt waren. Die Männer von der Müllabfuhr schimpften, weil
der Schnee gar nicht alle wurde. Der Milchmann schimpfte, weil ihm die Milch
in den Milchkannen zu Eis fror. Die Kider schimpften, weil ihnen die Ohren
ganz rot gefroren waren, und die Hunde bellten vor Wut über die Kälte schon
gar nicht mehr, sondern zitterten nur noch und klapperten mit den Zähnen vor
Kälte, und das sah auch sehr böse aus.
      An einem solchen kalten Schneetag ging Herr Moritz mit seinem blauen
Hut spazieren, und er dachte: «Wie böse die Menschen alle sind, es wird höchste
Zeit, daß wieder Sommer wird und die Blumen wachsen».
      Und als er so durch die schimpfenden Leute in der Markthalle ging,
wuchsen ihm auf dem Kopf ganz schnell und ganz viel Krokusse, Tulpen und
Maiglöckchen und Rosen und Nelken, auch Löwenzahn und Margeriten. Er
merkte es aber erst gar nicht, und dabei war schon längst sein Hut vom Kopf
hochgegangen, weil die Blumen immer mehr wurden und auch immer länger.
      Da blieb vor ihm eine Frau stehen und sagte: «Oh, Ihnen wachsen aber
schöne Blumen auf dem Kopf!» «Mir Blumen auf dem Kopf!» sagte Herr
Moritz, «so was gibt es gar nicht!»
      «Doch! Schauen Sie hier in das Schaufenster, Sie können sich darin
spiegeln. Darf ich eine Blume abpflücken?»
      Und Herr Moritz sah im Schaufensterspiegelbild, daß wirklich Blumen auf
seinem Kopf wuchsen, bunte und große, vierlei Art, und er sagte: «Aber bitte,
wenn Sie eine wollen...».
      «Ich möchte gerne eine kleine Rose», sagte die Frau und pflückte sich eine.
      «Und ich eine Nelke für meinen Bruder», sagte ein kleines Mädchen, und
Herr Moritz bückte sich damit das Mädchen ihm auf dem Kopf langen konnte.
Er brauchte sich aber nicht so sehr tief zu bücken, denn er war etwas kleiner als
andere Männer.
      Und viele Leute kamen und brachen sich Blumen vom Kopf des kleinen
Herrn Moritz, und es tat ihm gar nicht weh, und die Blumen wuchsen immer
gleich nach, und es kribbelte so schön am Kopf, als ob ihn jemand freundlich
streichelte; und Herr Moritz war froh, daß er den Leuten mitten im kalten Winter
Blumen geben konnte. Immer mehr Menschen kamen zusammen und lachten
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