Введение в анализ литературного текста. Евтугова Н.Н. - 29 стр.

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Wolf Biermann
Das Märchen vom kleinen Herrn Moritz, der eine Glatze kriegte.
Es war einmal ein kleiner älterer Herr, der hieß Herr Moritz und hat-
te sehr große Schuhe und einen schwarzen Mantel dazu und einen lan-
gen schwarzen Regenschirmstock, und damit ging er oft spazieren.
Als nun der lange Winter kam, der längste Winter auf der Welt in
Berlin, da wurden die Menschen allmählich böse. Die Autofahrer
schimpften, weil die Straßen so glatt waren, daß die Autos ausrutschten.
Die Verkehrspolizisten schimpften, weil sie immer auf der kalten Straße
rumstehen mußten. Die Verkäuferinnen schimpften, weil ihre Verkaufs-
läden so kalt waren. Die Männer von der Müllabfuhr schimpften, weil
der Schnee gar nicht alle wurde. Der Milchmann schimpfte, weil ihm
die Milch in den Milchkannen zu Eis gefror. Die Kinder schimpften,
weil ihnen die Ohren ganz rot gefroren waren, und die Hunde bellten
vor Wut über die Kälte schon gar nicht mehr, sondern zitterten nur noch
und klapperten mit den Zähnen vor Kälte, und das sah auch sehr böse
aus.
An einem solchen kalten Schneetag ging Herr Moritz mit seinem
blauen Hut spazieren, und er dachte: “Wie böse die Menschen alle sind,
es wird höchste Zeit, daß wieder Sommer wird und Blumen wachsen.”
Und als er so durch die schimpfenden Leute in der Markthalle ging,
wuchsen ganz schnell und ganz viel Krokusse, Tulpen und Maiglöck-
chen und Rosen und Nelken, auch Löwenzahn und Margeriten. Er
merkte es aber erst gar nicht, und dabei war schon längst sein Hut vom
Kopf hochgegangen, weil die Blumen immer mehr wurden und auch
immer länger.
Da blieb vor ihm eine Frau stehn und sagte: “Oh, Ihnen wachsen a-
ber schöne Blumen auf dem Kopf!” “Mir Blumen auf dem Kopf!” sagte
Herr Moritz, “so was gibt es gar nicht!”
“Doch! Schauen Sie hier in das Schaufenster, Sie können sich darin
spiegeln. Darf ich eine Blume abpflücken?” Und Herr Moritz sah im
Schaufensterspiegelbild, daß wirklich Blumen auf seinem Kopf wuch-
sen, bunte und große, vielerlei Art, und er sagte: “Aber bitte, wenn Sie
eine wollen...”
“Ich möchte gerne eine kleine Rose”, sagte die Frau und pflückte
sich eine.
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“Und ich eine Nelke für meinen Bruder”, sagte ein kleines Mädchen,
und Herr Moritz bückte sich, damit das Mädchen ihm auf den Kopf lan-
gen konnte. Er brauchte sich aber nicht so sehr tief zu bücken, denn er
war etwas kleiner als andere Männer. Und viele Leute kamen und bra-
chen sich Blumen vom Kopf des kleinen Herrn Moritz, und es tat ihm
nicht weh, und die Blumen wuchsen immer gleich nach, und es kribbel-
te so schön am Kopf, als ob ihn jemand freundlich streichelte, und Herr
Moritz war froh, daß er den Leuten mitten im kalten Winter Blumen
geben konnte. Immer mehr Menschen kamen zusammen und lachten
und wunderten sich und brachen sich Blumen vom Kopf des kleinen
Herrn Moritz, und keiner, der eine Blume erwischt hatte, sagte an die-
sem Tag noch ein böses Wort.
Aber da kam auf einmal auch der Polizist Max Kunkel. Max Kunkel
war schon seit zehn Jahren in der Markthalle als Markthallenpolizist
tätig, aber so was hatte er noch nicht gesehn! Mann mit Blumen auf
dem Kopf! Er drängelte sich durch die vielen lauten Menschen, und als
er vor dem kleinen Herrn Moritz stand, schrie er: “Wo gibt's denn so
was! Blumen auf dem Kopf, mein Herr! Zeigen Sie doch mal bitte so-
fort Ihren Personalausweis!”
Und der kleine Herr Moritz suchte und suchte und sagte verzweifelt:
“Ich habe ihn doch immer bei mir gehabt, ich hab ihn doch in der Ta-
sche gehabt!”
Und je mehr er suchte, um so mehr verschwanden die Blumen auf
seinem Kopf.
“Aha”, sagte der Polizist Max Kunkel, “Blumen auf dem Kopf ha-
ben Sie, aber keinen Ausweis in der Tasche!”
Und Herr Moritz suchte immer ängstlicher seinen Ausweis und war
ganz rot vor Verlegenheit, und je mehr er suchte - auch im Jackenfutter
-, um so mehr schrumpften die Blumen zusammen, und der Hut ging
allmählich wieder runter auf den Kopf! In seiner Verzweiflung nahm
Herr Moritz seinen Hut ab, und siehe da, unter dem Hut lag in der abge-
griffenen Gummihülle der Personalausweis. Aber was noch!? Die Haare
waren alle weg! Kein Haar mehr auf dem Kopf hatte der kleine Herr
Moritz. Er strich sich verlegen über den kahlen Kopf und setzte dann
schnell den Hut drauf. “Na, da ist ja der Ausweis”, sagte der Polizist
                         Wolf Biermann                                          “Und ich eine Nelke für meinen Bruder”, sagte ein kleines Mädchen,
   Das Märchen vom kleinen Herrn Moritz, der eine Glatze kriegte.           und Herr Moritz bückte sich, damit das Mädchen ihm auf den Kopf lan-
                                                                            gen konnte. Er brauchte sich aber nicht so sehr tief zu bücken, denn er
    Es war einmal ein kleiner älterer Herr, der hieß Herr Moritz und hat-
                                                                            war etwas kleiner als andere Männer. Und viele Leute kamen und bra-
te sehr große Schuhe und einen schwarzen Mantel dazu und einen lan-
                                                                            chen sich Blumen vom Kopf des kleinen Herrn Moritz, und es tat ihm
gen schwarzen Regenschirmstock, und damit ging er oft spazieren.
                                                                            nicht weh, und die Blumen wuchsen immer gleich nach, und es kribbel-
    Als nun der lange Winter kam, der längste Winter auf der Welt in
                                                                            te so schön am Kopf, als ob ihn jemand freundlich streichelte, und Herr
Berlin, da wurden die Menschen allmählich böse. Die Autofahrer
                                                                            Moritz war froh, daß er den Leuten mitten im kalten Winter Blumen
schimpften, weil die Straßen so glatt waren, daß die Autos ausrutschten.
                                                                            geben konnte. Immer mehr Menschen kamen zusammen und lachten
Die Verkehrspolizisten schimpften, weil sie immer auf der kalten Straße
                                                                            und wunderten sich und brachen sich Blumen vom Kopf des kleinen
rumstehen mußten. Die Verkäuferinnen schimpften, weil ihre Verkaufs-
                                                                            Herrn Moritz, und keiner, der eine Blume erwischt hatte, sagte an die-
läden so kalt waren. Die Männer von der Müllabfuhr schimpften, weil
                                                                            sem Tag noch ein böses Wort.
der Schnee gar nicht alle wurde. Der Milchmann schimpfte, weil ihm
                                                                                Aber da kam auf einmal auch der Polizist Max Kunkel. Max Kunkel
die Milch in den Milchkannen zu Eis gefror. Die Kinder schimpften,
                                                                            war schon seit zehn Jahren in der Markthalle als Markthallenpolizist
weil ihnen die Ohren ganz rot gefroren waren, und die Hunde bellten
                                                                            tätig, aber so was hatte er noch nicht gesehn! Mann mit Blumen auf
vor Wut über die Kälte schon gar nicht mehr, sondern zitterten nur noch
                                                                            dem Kopf! Er drängelte sich durch die vielen lauten Menschen, und als
und klapperten mit den Zähnen vor Kälte, und das sah auch sehr böse
                                                                            er vor dem kleinen Herrn Moritz stand, schrie er: “Wo gibt's denn so
aus.
                                                                            was! Blumen auf dem Kopf, mein Herr! Zeigen Sie doch mal bitte so-
    An einem solchen kalten Schneetag ging Herr Moritz mit seinem
                                                                            fort Ihren Personalausweis!”
blauen Hut spazieren, und er dachte: “Wie böse die Menschen alle sind,
                                                                                Und der kleine Herr Moritz suchte und suchte und sagte verzweifelt:
es wird höchste Zeit, daß wieder Sommer wird und Blumen wachsen.”
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    Und als er so durch die schimpfenden Leute in der Markthalle ging,
                                                                            sche gehabt!”
wuchsen ganz schnell und ganz viel Krokusse, Tulpen und Maiglöck-
                                                                                Und je mehr er suchte, um so mehr verschwanden die Blumen auf
chen und Rosen und Nelken, auch Löwenzahn und Margeriten. Er
                                                                            seinem Kopf.
merkte es aber erst gar nicht, und dabei war schon längst sein Hut vom
                                                                                “Aha”, sagte der Polizist Max Kunkel, “Blumen auf dem Kopf ha-
Kopf hochgegangen, weil die Blumen immer mehr wurden und auch
                                                                            ben Sie, aber keinen Ausweis in der Tasche!”
immer länger.
                                                                                Und Herr Moritz suchte immer ängstlicher seinen Ausweis und war
    Da blieb vor ihm eine Frau stehn und sagte: “Oh, Ihnen wachsen a-
                                                                            ganz rot vor Verlegenheit, und je mehr er suchte - auch im Jackenfutter
ber schöne Blumen auf dem Kopf!” “Mir Blumen auf dem Kopf!” sagte
                                                                            -, um so mehr schrumpften die Blumen zusammen, und der Hut ging
Herr Moritz, “so was gibt es gar nicht!”
                                                                            allmählich wieder runter auf den Kopf! In seiner Verzweiflung nahm
    “Doch! Schauen Sie hier in das Schaufenster, Sie können sich darin
                                                                            Herr Moritz seinen Hut ab, und siehe da, unter dem Hut lag in der abge-
spiegeln. Darf ich eine Blume abpflücken?” Und Herr Moritz sah im
                                                                            griffenen Gummihülle der Personalausweis. Aber was noch!? Die Haare
Schaufensterspiegelbild, daß wirklich Blumen auf seinem Kopf wuch-
                                                                            waren alle weg! Kein Haar mehr auf dem Kopf hatte der kleine Herr
sen, bunte und große, vielerlei Art, und er sagte: “Aber bitte, wenn Sie
                                                                            Moritz. Er strich sich verlegen über den kahlen Kopf und setzte dann
eine wollen...”
                                                                            schnell den Hut drauf. “Na, da ist ja der Ausweis”, sagte der Polizist
    “Ich möchte gerne eine kleine Rose”, sagte die Frau und pflückte
sich eine.

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