ВУЗ:
Составители:
Рубрика:
59
Max Kunkel freundlich, “und Blumen haben Sie ja wohl auch nicht
mehr auf dem Kopf, wie?!”
“Nein...”, sagte Herr Moritz und steckte schnell seinen Ausweis ein
und lief, so schnell man auf den glatten Straßen laufen konnte, nach
Hause. Dort stand er lange vor dem Spiegel und sagte zu sich: “Jetzt
hast du eine Glatze, Herr Moritz!”
1. Zu welchem Genre gehört dieser Text? Nennen Sie typische
Merkmale. Warum greift der Autor zu diesem Genre? Welche
Abweichungen von diesem Genre finden Sie?
2. Wie viele Teile und welche Räume kann man in diesem Text
aussondern?
3. Welche Rolle spielt hier die Farbtechnik?
4. Welche Darstellungsart spielt hier eine besondere Rolle?
5. Wie verstehen Sie den Terminus “Aus-der-Rolle-Fallen”?
Ilse Aichinger
Das Fenster-Theater
Ilse Aichinger wurde 1921 in Wien geboren. Die Erfahrung der Ver-
folgung durch die Nationalsozialisten war für sie ein wesentlicher
Grund zu schreiben. Sie wurde Mitglied der “Gruppe 47” und erhielt für
ihre Hörspiele und Kurzgeschichten mehrere Literaturpreise.
Die Frau lehnte am Fenster und sah hinüber. Der Wind trieb in leich-
ten Stößen vom Fluß herauf und brachte nichts Neues. Die Frau hatte
den starren Blick neugieriger Leute, die unersättlich sind. Es hatte ihr
noch niemand den Gefallen getan, vor ihrem Haus niedergefahren zu
werden. Außerdem wohnte sie im vorletzten Stock, die Straße lag zu
tief unten. Der Lärm rauschte nur mehr leicht herauf. Alles lag zu tief
unten. Als sie sich eben vom Fenster abwenden wollte, bemerkte sie,
daß der Alte gegenüber Licht angedreht hätte. Da es noch ganz hell war,
blieb dieses Licht für sich und machte den merkwürdigen Eindruck, den
aufflammende Straßenlaternen unter der Sonne machen. Als hätte einer
an seinen Fenstern die Kerzen angesteckt, noch ehe die Prozession die
60
Kirche verlassen hat. Die Frau blieb am Fenster. Der Alte öffnete und
nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die Wohnung über ihr
stand leer, und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese Zeit schon
geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder.
Er griff sich an die Stirne; entdeckte, daß er keinen Hut aufhatte, und
verschwand im Innern des Zimmers.
Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und
lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu
winken. Erst leicht und dann immer eifriger. Er hing über die Brüstung,
daß man Angst bekam, er würde vornüberfallen. Die Frau trat einen
Schritt zurück, aber das schien ihn nur zu bestärken. Er ließ das Tuch
fallen, löste seinen Schal vom Hals - einen großen bunten Schal - und
ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dazu lächelte er. Und als sie noch ei-
nen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Be-
wegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf.
Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er
aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen ihnen ein ge-
heimes Einverständnis. Das bereitete ihr solange Vergnügen, bis sie
plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die
Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt
und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schoii die Polizei verstän-
digt.
Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden
Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem
Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das
Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und
ihre Stimme, erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so daß sich
sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde
darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hoh-
len Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon
um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loszu-
reißen.
Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den
Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die
Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu
verscheuchen suchte, erklärten sie einstimmig, in diesem Hause zu
Max Kunkel freundlich, “und Blumen haben Sie ja wohl auch nicht Kirche verlassen hat. Die Frau blieb am Fenster. Der Alte öffnete und mehr auf dem Kopf, wie?!” nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die Wohnung über ihr “Nein...”, sagte Herr Moritz und steckte schnell seinen Ausweis ein stand leer, und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese Zeit schon und lief, so schnell man auf den glatten Straßen laufen konnte, nach geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder. Hause. Dort stand er lange vor dem Spiegel und sagte zu sich: “Jetzt Er griff sich an die Stirne; entdeckte, daß er keinen Hut aufhatte, und hast du eine Glatze, Herr Moritz!” verschwand im Innern des Zimmers. Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und 1. Zu welchem Genre gehört dieser Text? Nennen Sie typische lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu Merkmale. Warum greift der Autor zu diesem Genre? Welche winken. Erst leicht und dann immer eifriger. Er hing über die Brüstung, Abweichungen von diesem Genre finden Sie? daß man Angst bekam, er würde vornüberfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das schien ihn nur zu bestärken. Er ließ das Tuch 2. Wie viele Teile und welche Räume kann man in diesem Text fallen, löste seinen Schal vom Hals - einen großen bunten Schal - und aussondern? ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dazu lächelte er. Und als sie noch ei- 3. Welche Rolle spielt hier die Farbtechnik? nen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Be- 4. Welche Darstellungsart spielt hier eine besondere Rolle? wegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er 5. Wie verstehen Sie den Terminus “Aus-der-Rolle-Fallen”? aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen ihnen ein ge- heimes Einverständnis. Das bereitete ihr solange Vergnügen, bis sie Ilse Aichinger plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Das Fenster-Theater Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schoii die Polizei verstän- Ilse Aichinger wurde 1921 in Wien geboren. Die Erfahrung der Ver- digt. folgung durch die Nationalsozialisten war für sie ein wesentlicher Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Grund zu schreiben. Sie wurde Mitglied der “Gruppe 47” und erhielt für Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem ihre Hörspiele und Kurzgeschichten mehrere Literaturpreise. Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und Die Frau lehnte am Fenster und sah hinüber. Der Wind trieb in leich- ihre Stimme, erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so daß sich ten Stößen vom Fluß herauf und brachte nichts Neues. Die Frau hatte sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde den starren Blick neugieriger Leute, die unersättlich sind. Es hatte ihr darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hoh- noch niemand den Gefallen getan, vor ihrem Haus niedergefahren zu len Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon werden. Außerdem wohnte sie im vorletzten Stock, die Straße lag zu um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loszu- tief unten. Der Lärm rauschte nur mehr leicht herauf. Alles lag zu tief reißen. unten. Als sie sich eben vom Fenster abwenden wollte, bemerkte sie, Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den daß der Alte gegenüber Licht angedreht hätte. Da es noch ganz hell war, Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die blieb dieses Licht für sich und machte den merkwürdigen Eindruck, den Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu aufflammende Straßenlaternen unter der Sonne machen. Als hätte einer verscheuchen suchte, erklärten sie einstimmig, in diesem Hause zu an seinen Fenstern die Kerzen angesteckt, noch ehe die Prozession die 59 60
Страницы
- « первая
- ‹ предыдущая
- …
- 28
- 29
- 30
- 31
- 32
- …
- следующая ›
- последняя »