Введение в анализ литературного текста. Евтугова Н.Н. - 38 стр.

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Ilse Aichinger
Das Plakat
“Du wirst nicht sterben!” sagte der Mann, der die Plakate klebte, und
erschrak über seine Stimme, als wäre ihm in der flirrenden Hitze sein
eigener Geist erschienen. Dann wandte er den Kopf vorsichtig nach
links und rechts, aber da war niemand, der ihn für verrückt halten konn-
te, niemand stand unter seiner Leiter. Der Stadtbahnzug war eben weg-
gefahren und hatte die Schienen wieder ihrem eigenen Glanz überlas-
sen. Auf der anderen Seite der Station stand eine Frau und hielt ein
Kind an der Hand. Das Kind sang vor sich hin. Und das war alles. Die
Stille des Mittags lag wie eine schwere Hand über der Station, und das
Licht schien von seinem eigenen Übermaß überwältigt zu sein. Der
Himmel über den Schutzdächern war blau und gewalttätig, im gleichen
Maß bereit, zu schützen und einzustürzen, und die Telegraphendrähte
hatten längst zu singen aufgehört. Die Ferne hatte die Nähe verschlun-
gen und die Nähe die Ferne. Es war kein Wunder, daß nur wenige Leute
um diese Zeit mit der Stadtbahn fuhren, vielleicht hatten sie Angst, zu
Gespenstern zu werden und sich selbst zu erscheinen.
“Du wirst nicht sterben!” wiederholte der Mann verbittert und
spuckte von der Leiter. Ein Flecken Blut blieb auf den hellen Steinen.
Der Himmel darüber schien plötzlich vor Schreck erstarrt. Es war fast,
als hätte ihm einer erklärt: Du wirst nie Abend werden, als wäre der
Himmel selbst zum Plakat geworden und stünde nun grell und groß wie
die Werbung für ein Seebad über der Station. Der Mann warf den Pinsel
in den Eimer zurück und stieg von der Leiter. Er fiel mit dem Rücken
gegen die Mauer, hatte aber gleich darauf den Schwindel überwunden,
nahm die Leiter über die Schulter und ging.
Der Junge auf dem Plakat lachte schreckerfüllt mit weißen Zähnen
und starrte geradeaus. Er wollte dem Mann nachschauen, hatte aber kei-
ne Möglichkeit, den Blick zu senken. Seine Augen waren aufgerissen.
Halbnackt, die Arme hochgeworfen, im Lauf festgehalten wie zur Strafe
für Sünden, von denen er nichts wußte, stand er im weißen Gischt, über
sich den Himmel, der zu blau, und hinter sich den Strand, der zu gelb
war, und lachte verzweifelt auf die andere Seite der Station, wo das
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Kind vor sich hin sang und die Frau verloren und sehnsüchtig nach ihm
hinübersah. Er hätte ihr gerne erklärt, daß es eine Täuschung war, daß
er nicht die See vor sich hatte, wie das Plakat glauben machen wollte,
sondern ebenso wie sie nur den Staub und die Stille der Station und die
Tafel mit der Aufschrift: “Das Betreten der Schienen ist verboten!” Und
er hätte ihr sein eigenes Lachen geklagt, das ihn zur Verzweiflung
brachte, wie der Gischt, der ihn umsprang, ohne zu kühlen.
Der Junge auf dem Plakat hätte niemals auf solche Ideen kommen
dürfen. Weder das Mädchen links von ihm, das einen Blumenstrauß aus
einem ganz bestimmten Blumenladen an die Brust gepreßt hielt, noch
der Herr rechts von ihm, der eben gebückt aus einem blitzblauen Auto
stieg, fanden irgend etwas daran. Es fiel ihnen nicht ein, sich auf-
zulehnen. Das Mädchen hatte kein Verlangen, den Strauß, den es kaum
halten konnte, aus seinen rosigen Armen zu lassen, und die Blumen hat-
ten kein Verlangen nach Wasser. Und der Herr mit dem Auto schien
seine gebückte Haltung für die einzig mögliche zu halten, denn er lä-
chelte vergnügt und dachte nicht daran, sich aufzurichten, das Auto ab-
zusperren und den hellen Wolken ein Stück nachzugehen. Sogar die
hellen Wolken standen reglos, von silbernen Linien wie von Ketten
umgeben, die sie nicht wandern ließen. Der Junge im Gischt war der
einzige, dem die Auflehnung hinter dem erstarrten Lachen saß wie das
unsichtbare Land hinter der gelben Küste.
Schuld daran war der Mann mit der Leiter, der gesagt hatte: “Du
wirst nicht sterben!” Der Junge hatte keine Ahnung, was Sterben hieß.
Wie sollte er auch? Über seinem Kopf stand in heller Schrift, schräg
wie eine vergessene Rauchwolke über den Himmel geworfen, das Wort
“Jugend”, und zu seinen Füßen in dem täuschenden Streifen giftgrüner
See konnte man lesen: “Komm mit uns!” Es war eine der vielen Wer-
bungen für ein Ferienlager.
Der Mann mit der Leiter war inzwischen oben angelangt. Er lehnte
die Leiter an die schmutzige Mauer des Stationsgebäudes, wechselte mit
dem lahmen Bettler einige Worte über die Hitze und überquerte zuletzt
die Fahrbahn, um sich an dem Stand auf der Brücke ein Glas Bier zu
kaufen. Dort wechselte er wieder einige Worte über die Hitze und kei-
nes über das Sterben und ging dann zurück, um seine Leiter zu holen.
Über allem war ein Schleier von Staub, in den das Licht sich vergeblich
                                                                            Kind vor sich hin sang und die Frau verloren und sehnsüchtig nach ihm
                                                                            hinübersah. Er hätte ihr gerne erklärt, daß es eine Täuschung war, daß
                             Ilse Aichinger                                 er nicht die See vor sich hatte, wie das Plakat glauben machen wollte,
                               Das Plakat                                   sondern ebenso wie sie nur den Staub und die Stille der Station und die
                                                                            Tafel mit der Aufschrift: “Das Betreten der Schienen ist verboten!” Und
    “Du wirst nicht sterben!” sagte der Mann, der die Plakate klebte, und
                                                                            er hätte ihr sein eigenes Lachen geklagt, das ihn zur Verzweiflung
erschrak über seine Stimme, als wäre ihm in der flirrenden Hitze sein
                                                                            brachte, wie der Gischt, der ihn umsprang, ohne zu kühlen.
eigener Geist erschienen. Dann wandte er den Kopf vorsichtig nach
                                                                                Der Junge auf dem Plakat hätte niemals auf solche Ideen kommen
links und rechts, aber da war niemand, der ihn für verrückt halten konn-
                                                                            dürfen. Weder das Mädchen links von ihm, das einen Blumenstrauß aus
te, niemand stand unter seiner Leiter. Der Stadtbahnzug war eben weg-
                                                                            einem ganz bestimmten Blumenladen an die Brust gepreßt hielt, noch
gefahren und hatte die Schienen wieder ihrem eigenen Glanz überlas-
                                                                            der Herr rechts von ihm, der eben gebückt aus einem blitzblauen Auto
sen. Auf der anderen Seite der Station stand eine Frau und hielt ein
                                                                            stieg, fanden irgend etwas daran. Es fiel ihnen nicht ein, sich auf-
Kind an der Hand. Das Kind sang vor sich hin. Und das war alles. Die
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Stille des Mittags lag wie eine schwere Hand über der Station, und das
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Licht schien von seinem eigenen Übermaß überwältigt zu sein. Der
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Himmel über den Schutzdächern war blau und gewalttätig, im gleichen
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Maß bereit, zu schützen und einzustürzen, und die Telegraphendrähte
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hatten längst zu singen aufgehört. Die Ferne hatte die Nähe verschlun-
                                                                            zusperren und den hellen Wolken ein Stück nachzugehen. Sogar die
gen und die Nähe die Ferne. Es war kein Wunder, daß nur wenige Leute
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um diese Zeit mit der Stadtbahn fuhren, vielleicht hatten sie Angst, zu
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Gespenstern zu werden und sich selbst zu erscheinen.
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    “Du wirst nicht sterben!” wiederholte der Mann verbittert und
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spuckte von der Leiter. Ein Flecken Blut blieb auf den hellen Steinen.
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Der Himmel darüber schien plötzlich vor Schreck erstarrt. Es war fast,
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als hätte ihm einer erklärt: Du wirst nie Abend werden, als wäre der
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Himmel selbst zum Plakat geworden und stünde nun grell und groß wie
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die Werbung für ein Seebad über der Station. Der Mann warf den Pinsel
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in den Eimer zurück und stieg von der Leiter. Er fiel mit dem Rücken
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gegen die Mauer, hatte aber gleich darauf den Schwindel überwunden,
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nahm die Leiter über die Schulter und ging.
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    Der Junge auf dem Plakat lachte schreckerfüllt mit weißen Zähnen
                                                                            die Leiter an die schmutzige Mauer des Stationsgebäudes, wechselte mit
und starrte geradeaus. Er wollte dem Mann nachschauen, hatte aber kei-
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ne Möglichkeit, den Blick zu senken. Seine Augen waren aufgerissen.
                                                                            die Fahrbahn, um sich an dem Stand auf der Brücke ein Glas Bier zu
Halbnackt, die Arme hochgeworfen, im Lauf festgehalten wie zur Strafe
                                                                            kaufen. Dort wechselte er wieder einige Worte über die Hitze und kei-
für Sünden, von denen er nichts wußte, stand er im weißen Gischt, über
                                                                            nes über das Sterben und ging dann zurück, um seine Leiter zu holen.
sich den Himmel, der zu blau, und hinter sich den Strand, der zu gelb
                                                                            Über allem war ein Schleier von Staub, in den das Licht sich vergeblich
war, und lachte verzweifelt auf die andere Seite der Station, wo das

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