Введение в анализ литературного текста. Евтугова Н.Н. - 39 стр.

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zu hüllen versuchte. Der Mann packte die Leiter, den Eimer und die
Rolle mit den Plakaten und stieg auf der anderen Seite der Stadtbahn die
Stiegen wieder hinunter. Der nächste Zug war noch immer nicht ge-
kommen. Sie verkehrten um diese Zeit manchmal so selten, als ver-
wechselten sie Mittag mit Mitternacht.
Der Junge auf dem Plakat, der nichts anderes konnte als lachend ge-
radeaus starren, sah, wie der Mann genau gegenüber seine Leiter wieder
aufstellte und von neuem über die Wände zu streichen begann, über die
Wände, an welchen Frauen in kostbaren Kleidern und in dem frevelhaf-
ten Wunsch, festzuhalten, was nicht festzuhalten war, erstarrt waren.
Der Wunsch, das Ende der Nacht nicht zu erleben, war ihnen in Erfül-
lung gegangen. Ihre Angst vor dem Morgengrauen war so groß gewe-
sen, daß sie von nun ab nichts anderes mehr konnten, als für den Spie-
gelsaal eines Tanzlokals werben, starr und leicht zurückgeneigt in den
Armen ihrer Herren. Der Mann auf der Leiter schüttelte seinen Pinsel
aus. Sie waren an der Reihe, überklebt zu werden. Der Junge gegenüber
konnte es deutlich sehen. Und er sah, wie sie freundlich und wehrlos
das Furchtbare mit sich geschehen ließen.
Er wollte schreien, doch er schrie nicht. Er wollte die Arme ausstre-
cken, um ihnen zu helfen, aber seine Arme waren hochgeworfen. Er war
jung und schön und strahlend. Er hatte das Spiel gewonnen, doch den
Preis hatte er zu bezahlen. Er war festgehalten in der Mitte des Tages
wie die Tänzer gegenüber in der Mitte der Nacht. Und wie sie würde er
wehrlos alles mit sich geschehen lassen, wie sie würde er den Mann
nicht von der Leiter stoßen können. Vielleicht hing alles damit zusam-
men, daß er nicht sterben konnte.
Komm mit uns – komm mit uns – komm mit uns! Er hatte nichts an-
deres im Kopf zu haben als die Worte zu seinen Füßen. Es war der
Reim eines Liedes. Das sangen sie, wenn sie auf Ferien fuhren, das san-
gen sie, wenn ihnen die Haare flogen. Das sangen sie noch immer,
wenn der Zug auf der Strecke hielt, das sangen sie, wenn ihnen die Haa-
re im Fliegen erstarrten. Komm mit uns – komm mit uns – komm mit
uns! Und keiner wußte weiter.
Hinter der Stirne des Jungen begann es zu rasen. Weiße Segler lan-
deten ungesehen in der unsichtbaren Bucht. Der Reim sprang um: Du
wirst nicht sterben – du wirst nicht sterben – du wirst nicht sterben! Es
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war wie eine Warnung. Der Junge hatte keine Ahnung, was Sterben
war, aber es brannte plötzlich wie ein Wunsch in ihm. Sterben, das hieß
vielleicht die Bälle fliegen lassen und die Arme ausbreiten, sterben, das
hieß vielleicht tauchen oder fragen, sterben hieß, von dem Plakat sprin-
gen, sterben – jetzt wußte er es – sterben mußte man, um nicht ü-
berklebt zu werden.
Der Mann auf der Leiter hatte seine Worte längst vergessen. Und
wenn es einer Fliege auf dem Rücken seiner Hand eingefallen wäre, ihn
daran zu erinnern, so hätte er sie abgeleugnet. Er hatte es in einem An-
fall von Verbitterung gesagt, einer Verbitterung, die in ihm gewachsen
war, seit er Plakate klebte. Er haßte diese glatten, jungen Gesichter,
denn er selbst hatte ein Feuermal auf der Wange. Außerdem mußte er
achtgeben, daß ihn der Husten nicht von Zeit zu Zeit von der Leiter
warf. Aber schließlich lebte er davon, Plakate zu kleben. Die Hitze war
ihm eben in den Kopf gestiegen, vielleicht hatte er im Traum gespro-
chen. Schluß damit.
Die Frau mit dem Kind war näher gekommen. Drei Mädchen in hel-
len Kleidern klapperten die Stiegen hinunter. Zuletzt standen alle um
seine Leiter und sahen ihm zu. Das schmeichelte ihm, und es blieb ihm
nichts übrig, als zum drittenmal ein Gespräch über die Hitze zu begin-
nen. Sie stimmten alle eifrig ein, als wüßten sie endlich den Grund für
ihre Freude und für ihre Traurigkeit.
Das Kind hatte sich von der Hand der Mutter losgerissen und drehte
sich im Kreis. Es wollte schwindlig werden. Aber bevor es schwindlig
wurde, fiel sein Blick auf das Plakat gegenüber. Der Junge lachte
beschwörend. “Da!” rief das Kind und zeigte mit der Hand hinüber, als
gefiele ihm der weiße Schaum und die See, die zu grün war.
Der Junge hatte keine Macht, den Kopf zu schütteln, er hatte keine
Macht, zu sagen: “Nein, das ist es nicht!” Aber das Rasen hinter seiner
Stirne war unerträglich geworden: , Sterben – sterben – sterben! Ist das
Sterben, wenn die See endlich naß wird? Ist das Sterben, wenn der
Wind endlich weht? Was ist das: Sterben?
Das Kind auf der anderen Seite faltete die Stirne. Es war nicht si-
cher, ob es die Verzweiflung in dem Lachen erkannt hatte oder ob es
nur das Spiel mit den Gesichtern spielen wollte. Doch der Junge konnte
nicht einmal die Stirne falten, um dem Kind die Freude zu machen.
zu hüllen versuchte. Der Mann packte die Leiter, den Eimer und die          war wie eine Warnung. Der Junge hatte keine Ahnung, was Sterben
Rolle mit den Plakaten und stieg auf der anderen Seite der Stadtbahn die    war, aber es brannte plötzlich wie ein Wunsch in ihm. Sterben, das hieß
Stiegen wieder hinunter. Der nächste Zug war noch immer nicht ge-           vielleicht die Bälle fliegen lassen und die Arme ausbreiten, sterben, das
kommen. Sie verkehrten um diese Zeit manchmal so selten, als ver-           hieß vielleicht tauchen oder fragen, sterben hieß, von dem Plakat sprin-
wechselten sie Mittag mit Mitternacht.                                      gen, sterben – jetzt wußte er es – sterben mußte man, um nicht ü-
    Der Junge auf dem Plakat, der nichts anderes konnte als lachend ge-     berklebt zu werden.
radeaus starren, sah, wie der Mann genau gegenüber seine Leiter wieder          Der Mann auf der Leiter hatte seine Worte längst vergessen. Und
aufstellte und von neuem über die Wände zu streichen begann, über die       wenn es einer Fliege auf dem Rücken seiner Hand eingefallen wäre, ihn
Wände, an welchen Frauen in kostbaren Kleidern und in dem frevelhaf-        daran zu erinnern, so hätte er sie abgeleugnet. Er hatte es in einem An-
ten Wunsch, festzuhalten, was nicht festzuhalten war, erstarrt waren.       fall von Verbitterung gesagt, einer Verbitterung, die in ihm gewachsen
Der Wunsch, das Ende der Nacht nicht zu erleben, war ihnen in Erfül-        war, seit er Plakate klebte. Er haßte diese glatten, jungen Gesichter,
lung gegangen. Ihre Angst vor dem Morgengrauen war so groß gewe-            denn er selbst hatte ein Feuermal auf der Wange. Außerdem mußte er
sen, daß sie von nun ab nichts anderes mehr konnten, als für den Spie-      achtgeben, daß ihn der Husten nicht von Zeit zu Zeit von der Leiter
gelsaal eines Tanzlokals werben, starr und leicht zurückgeneigt in den      warf. Aber schließlich lebte er davon, Plakate zu kleben. Die Hitze war
Armen ihrer Herren. Der Mann auf der Leiter schüttelte seinen Pinsel        ihm eben in den Kopf gestiegen, vielleicht hatte er im Traum gespro-
aus. Sie waren an der Reihe, überklebt zu werden. Der Junge gegenüber       chen. Schluß damit.
konnte es deutlich sehen. Und er sah, wie sie freundlich und wehrlos            Die Frau mit dem Kind war näher gekommen. Drei Mädchen in hel-
das Furchtbare mit sich geschehen ließen.                                   len Kleidern klapperten die Stiegen hinunter. Zuletzt standen alle um
    Er wollte schreien, doch er schrie nicht. Er wollte die Arme ausstre-   seine Leiter und sahen ihm zu. Das schmeichelte ihm, und es blieb ihm
cken, um ihnen zu helfen, aber seine Arme waren hochgeworfen. Er war        nichts übrig, als zum drittenmal ein Gespräch über die Hitze zu begin-
jung und schön und strahlend. Er hatte das Spiel gewonnen, doch den         nen. Sie stimmten alle eifrig ein, als wüßten sie endlich den Grund für
Preis hatte er zu bezahlen. Er war festgehalten in der Mitte des Tages      ihre Freude und für ihre Traurigkeit.
wie die Tänzer gegenüber in der Mitte der Nacht. Und wie sie würde er           Das Kind hatte sich von der Hand der Mutter losgerissen und drehte
wehrlos alles mit sich geschehen lassen, wie sie würde er den Mann          sich im Kreis. Es wollte schwindlig werden. Aber bevor es schwindlig
nicht von der Leiter stoßen können. Vielleicht hing alles damit zusam-      wurde, fiel sein Blick auf das Plakat gegenüber. Der Junge lachte
men, daß er nicht sterben konnte.                                           beschwörend. “Da!” rief das Kind und zeigte mit der Hand hinüber, als
    Komm mit uns – komm mit uns – komm mit uns! Er hatte nichts an-         gefiele ihm der weiße Schaum und die See, die zu grün war.
deres im Kopf zu haben als die Worte zu seinen Füßen. Es war der                Der Junge hatte keine Macht, den Kopf zu schütteln, er hatte keine
Reim eines Liedes. Das sangen sie, wenn sie auf Ferien fuhren, das san-     Macht, zu sagen: “Nein, das ist es nicht!” Aber das Rasen hinter seiner
gen sie, wenn ihnen die Haare flogen. Das sangen sie noch immer,            Stirne war unerträglich geworden: , Sterben – sterben – sterben! Ist das
wenn der Zug auf der Strecke hielt, das sangen sie, wenn ihnen die Haa-     Sterben, wenn die See endlich naß wird? Ist das Sterben, wenn der
re im Fliegen erstarrten. Komm mit uns – komm mit uns – komm mit            Wind endlich weht? Was ist das: Sterben?
uns! Und keiner wußte weiter.                                                   Das Kind auf der anderen Seite faltete die Stirne. Es war nicht si-
    Hinter der Stirne des Jungen begann es zu rasen. Weiße Segler lan-      cher, ob es die Verzweiflung in dem Lachen erkannt hatte oder ob es
deten ungesehen in der unsichtbaren Bucht. Der Reim sprang um: Du           nur das Spiel mit den Gesichtern spielen wollte. Doch der Junge konnte
wirst nicht sterben – du wirst nicht sterben – du wirst nicht sterben! Es   nicht einmal die Stirne falten, um dem Kind die Freude zu machen.


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