Введение в анализ литературного текста. Евтугова Н.Н. - 56 стр.

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gelangte zu einer kleinen Türe. In dem Schloß steckte ein verrosteter
Schlüssel, und als es umdrehte, sprang die Türe auf, und saß da in ei-
nem kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel und spann emsig
ihren Flachs. “Guten Tag, du altes Mütterchen,” sprach die Königstoch-
ter, “was machst du da?” “Ich spinne”, sagte die Alte und nickte mit
dem Kopf. “Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?”
sprach das Mädchen, nahm die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum
hatte sie aber die Spindel angerührt, so ging der Zauberspruch in Erfül-
lung, und sie stach sich damit in den Finger.
In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf das
Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf. Und dieser
Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloß: der König und die Köni-
gin, die eben heim gekommen waren und in den Saal getreten waren,
fingen an einzuschlafen, und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen
auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Da-
che, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herde flacker-
te, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln und
der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, an den
Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich,
und auf den Bäumen vor dem Schloß regte sich kein Blättchen mehr.
Rings um das Schloß aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die
jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß umzog und darüber
hinauswuchs, daß gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst nicht die
Fahne auf dem Dach. Es ging aber die Sage in dem Land von dem
schönen schlafenden Dornröschen, denn so ward die Königstochter ge-
nannt, also daß von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die He-
cke in das Schloß dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich,
denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die
Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen
und starben eines jämmerlichen Todes. Nach langen Jahren kam wieder
einmal ein Königssohn in das Land und hörte, wie ein alter Mann von
der Dornenhecke erzählte, es sollte ein Schloß dahinter stehen, in wel-
chem eine wunderschöne Königstochter, Dornröschen genannt, schon
seit hundert Jahren schliefe, und mit ihr schliefe der König und die Kö-
nigin und der ganze Hofstaat. Er wußte auch von seinem Großvater, daß
schon viele Königssöhne gekommen wären und versucht hätten, durch
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die Dornenhecke zu dringen, aber sie wären darin hängen geblieben und
eines traurigen Todes gestorben. Da sprach der Jüngling “ich fürchte
mich nicht, ich will hinaus und das schöne Dornröschen sehen.” Der
gute Alte mochte ihm abraten, wie er wollte, er hörte nicht auf seine
Worte.
Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der Tag
war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als der Kö-
nigssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter große schöne
Blumen, die taten sich von selbst auseinander und ließen ihn unbeschä-
digt hindurch, und hinter ihm taten sie sich wieder als eine Hecke zu-
sammen. Im Schloßhof sah er die Pferde und scheckigen Jagdhunde
liegen und schlafen, auf dem Dache saßen die Tauben und hatten das
Köpfchen unter den Flügel gesteckt. Und als er ins Haus kam, schliefen
die Fliegen an der Wand, der Koch in der Küche hielt noch die Hand,
als wollte er den Jungen anpacken, und die Magd saß vor dem schwar-
zen Huhn, das sollte gerupft werden. Da ging er weiter und sah im Saale
den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und oben bei dem Throne lag
der König und die Königin. Da ging er noch weiter, und alles war so
still, daß einer seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu dem
Turm und öffnete die Türe zu der kleinen Stube, in welcher Dornrö-
schen schlief. Da lag es und war es so schön, daß er die Augen nicht
abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm einen Kuß. Wie er es
mit dem Kuß berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwach-
te, und blickte ihn ganz freundlich an. Da gingen sie zusammen herab,
und der König erwachte und die Königin und der ganze Hofstaat, und
sahen einander mit großen Augen an. Und die Pferde im Hof standen
auf und rüttelten sich: die Jagdhunde sprangen und wedelten: die Tau-
ben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen
umher und flogen ins Feld: die Riegen an den Wänden krochen weiter:
das Feuer in der Küche erhob sich, flackerte und kochte das Essen: der
Braten fing wieder an zu brutzeln: und der Koch gab dem Jungen eine
Ohrfeige, daß er schrie: und die Magd rupfte das Huhn fertig. Und da
wurde die Hochzeit des Königssohns mit dem Dornröschen in aller
Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende.
Brüder Grimm (1977), 281–284
gelangte zu einer kleinen Türe. In dem Schloß steckte ein verrosteter      die Dornenhecke zu dringen, aber sie wären darin hängen geblieben und
Schlüssel, und als es umdrehte, sprang die Türe auf, und saß da in ei-     eines traurigen Todes gestorben. Da sprach der Jüngling “ich fürchte
nem kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel und spann emsig      mich nicht, ich will hinaus und das schöne Dornröschen sehen.” Der
ihren Flachs. “Guten Tag, du altes Mütterchen,” sprach die Königstoch-     gute Alte mochte ihm abraten, wie er wollte, er hörte nicht auf seine
ter, “was machst du da?” “Ich spinne”, sagte die Alte und nickte mit       Worte.
dem Kopf. “Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?”              Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der Tag
sprach das Mädchen, nahm die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum         war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als der Kö-
hatte sie aber die Spindel angerührt, so ging der Zauberspruch in Erfül-   nigssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter große schöne
lung, und sie stach sich damit in den Finger.                              Blumen, die taten sich von selbst auseinander und ließen ihn unbeschä-
    In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf das     digt hindurch, und hinter ihm taten sie sich wieder als eine Hecke zu-
Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf. Und dieser      sammen. Im Schloßhof sah er die Pferde und scheckigen Jagdhunde
Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloß: der König und die Köni-     liegen und schlafen, auf dem Dache saßen die Tauben und hatten das
gin, die eben heim gekommen waren und in den Saal getreten waren,          Köpfchen unter den Flügel gesteckt. Und als er ins Haus kam, schliefen
fingen an einzuschlafen, und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen    die Fliegen an der Wand, der Koch in der Küche hielt noch die Hand,
auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Da-        als wollte er den Jungen anpacken, und die Magd saß vor dem schwar-
che, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herde flacker-    zen Huhn, das sollte gerupft werden. Da ging er weiter und sah im Saale
te, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln und   den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und oben bei dem Throne lag
der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, an den       der König und die Königin. Da ging er noch weiter, und alles war so
Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich,   still, daß einer seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu dem
und auf den Bäumen vor dem Schloß regte sich kein Blättchen mehr.          Turm und öffnete die Türe zu der kleinen Stube, in welcher Dornrö-
    Rings um das Schloß aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die       schen schlief. Da lag es und war es so schön, daß er die Augen nicht
jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß umzog und darüber       abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm einen Kuß. Wie er es
hinauswuchs, daß gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst nicht die      mit dem Kuß berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwach-
Fahne auf dem Dach. Es ging aber die Sage in dem Land von dem              te, und blickte ihn ganz freundlich an. Da gingen sie zusammen herab,
schönen schlafenden Dornröschen, denn so ward die Königstochter ge-        und der König erwachte und die Königin und der ganze Hofstaat, und
nannt, also daß von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die He-       sahen einander mit großen Augen an. Und die Pferde im Hof standen
cke in das Schloß dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich,        auf und rüttelten sich: die Jagdhunde sprangen und wedelten: die Tau-
denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die      ben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen
Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen        umher und flogen ins Feld: die Riegen an den Wänden krochen weiter:
und starben eines jämmerlichen Todes. Nach langen Jahren kam wieder        das Feuer in der Küche erhob sich, flackerte und kochte das Essen: der
einmal ein Königssohn in das Land und hörte, wie ein alter Mann von        Braten fing wieder an zu brutzeln: und der Koch gab dem Jungen eine
der Dornenhecke erzählte, es sollte ein Schloß dahinter stehen, in wel-    Ohrfeige, daß er schrie: und die Magd rupfte das Huhn fertig. Und da
chem eine wunderschöne Königstochter, Dornröschen genannt, schon           wurde die Hochzeit des Königssohns mit dem Dornröschen in aller
seit hundert Jahren schliefe, und mit ihr schliefe der König und die Kö-   Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende.
nigin und der ganze Hofstaat. Er wußte auch von seinem Großvater, daß          Brüder Grimm (1977), 281–284
schon viele Königssöhne gekommen wären und versucht hätten, durch


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