Введение в анализ литературного текста. Евтугова Н.Н. - 58 стр.

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nicht möchten ehelich zusammenkommen”, da meldete sich der Tod.
Denn als der Jüngling den anderen Morgen in seiner schwarzen Berg-
mannskleidung an ihrem Haus vorbeiging, der Bergmann hat sein To-
tenkleid immer an, da klopfte er zwar noch einmal an ihrem Fenster und
sagte ihr guten Morgen, aber keinen guten Abend mehr. Er kam nimmer
aus dem Bergwerk zurück, und sie säumte vergeblich selbigen Morgen
ein schwarzes Halstuch mit rotem Rand für ihn zum Hochzeitstag, son-
dern als er nimmer kam, legte sie es weg und weinte um ihn und vergaß
ihn nie. Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein
Erdbeben zerstört, und der siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser
Franz der Erste starb, und der Jesuiten-Orden wurde aufgehoben und
Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee
wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische
und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türken
schlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein, und
der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte
russisch Finnland, und die französische Revolution und der lange Krieg
fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging auch ins Grab. Napo-
leon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen,
und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die
Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern
in ihrer unterirdischen Werkstatt. Als aber die Bergleute in Falun im
Jahre 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen zwei Schachten eine
Öffnung durchgraben wollten, gute dreihundert Ellen tief unter dem
Boden, gruben sie aus dem Schutt und Vitriolwasser den Leichnam ei-
nes Jünglings heraus, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst a-
ber unverwest und unverändert war; also daß man seine Gesichtszüge
und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er erst vor einer
Stunde gestorben und ein wenig eingeschlafen wäre an der Arbeit. Als
man ihn aber zu Tag ausgefördert hatte, Vater und Mutter, Gefreundete
und Bekannte waren schon lange tot, kein Mensch wollte den schlafen-
den Jüngling kennen oder etwas von seinem Unglück wissen, bis die
ehemalige Verlobte des Bergmannes kam, der eines Tages auf die
Schicht gegangen war und nimmer zurückkehrte. Grau und zusammen-
geschrumpft kam sie an einer Krücke an den Platz und erkannte ihren
Bräutigam; und mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz sank
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sie auf die geliebte Leiche nieder, und erst als sie sich von einer langen
heftigen Bewegung des Gemüts erholt hatte, “es ist mein Verlobter”,
sagte sie endlich, “um den ich fünfzig Jahre lang getrauert hatte und den
mich Gott noch einmal sehen läßt vor meinem Ende. Acht Tage vor der
Hochzeit ist er auf die Grube gegangen und nimmer gekommen.” Da
wurden die Gemüter aller Umstehenden von Wehmut und Tränen er-
griffen, als sie sahen die ehemalige Braut jetzt in der Gestalt des hinge-
welkten kraftlosen Alters und den Bräutigam noch in seiner jugendli-
chen Schöne, und wie in ihrer Brust nach fünfzig Jahren die Flamme
der jugendlichen Liebe noch einmal erwachte; aber er öffnete den Mund
nimmer zum Lächeln oder die Augen zum Wiedererkennen; und wie sie
ihn endlich von den Bergleuten in ihr Stüblein tragen ließ, als die einzi-
ge, die ihm angehöre und ein Recht an ihn habe, bis sein Grab gerüstet
sei auf dem Kirchhofe. Den anderen Tag, als das Grab gerüstet war auf
dem Kirchhof und ihn die Bergleute holten, schloß sie ein Kästlein auf,
legte ihm das schwarzseidene Halstuch mit roten Streifen um und be-
gleitete ihn in ihrem Sonntagsgewand, als wenn es ihr Hochzeitstag und
nicht der Tag seiner Beerdigung wäre. Denn als man ihn auf dem
Kirchhof ins Grab legte, sagte sie: “Schlafe nun wohl, noch einen Tag
oder zehn im kühlen Hochzeitbett, und laß dir die. Zeit nicht lang wer-
den. Ich habe nur noch ein wenig zu tun und komme bald, und bald
wird's wieder Tag.” – “Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird
sie zum zweitenmal auch nicht behalten”, sagte sie, als sie fortging und
noch einmal umschaute.
Johann Peter Hebel
J. P. Hebel lebte von 1760–1826. Das “Schatzkästlein des rheini-
schen Hausfreundes” erschien 181 1. Es ist eine Sammlung von Kurz-
geschichten, Anekdoten und Schwanken. Hebel hat diese Prosastücke in
der Zeit von 1 803 bis 181 1 verfaßt. Die Erzählungen sind volkstüm-
lich, zugleich enthalten sie viele Anspielungen auf historische Ereignis-
se. Durch die Schauplätze (=Orte) seiner Geschichten, die über ganz
Europa verteilt sind und teils auch in Amerika liegen, und durch die
Schilderung faktischer Geschehnisse, wirken seine Geschichten glaub-
würdig und phantasieanregend zugleich. Er schildert menschliche
Schwächen. Oft scheitern Verhaltensweisen wie Geiz, Gewinnsucht und
Konkurrenz an der Klugheit eines Einzelnen - z.B. “Die Postillione”;
nicht möchten ehelich zusammenkommen”, da meldete sich der Tod.           sie auf die geliebte Leiche nieder, und erst als sie sich von einer langen
Denn als der Jüngling den anderen Morgen in seiner schwarzen Berg-        heftigen Bewegung des Gemüts erholt hatte, “es ist mein Verlobter”,
mannskleidung an ihrem Haus vorbeiging, der Bergmann hat sein To-         sagte sie endlich, “um den ich fünfzig Jahre lang getrauert hatte und den
tenkleid immer an, da klopfte er zwar noch einmal an ihrem Fenster und    mich Gott noch einmal sehen läßt vor meinem Ende. Acht Tage vor der
sagte ihr guten Morgen, aber keinen guten Abend mehr. Er kam nimmer       Hochzeit ist er auf die Grube gegangen und nimmer gekommen.” Da
aus dem Bergwerk zurück, und sie säumte vergeblich selbigen Morgen        wurden die Gemüter aller Umstehenden von Wehmut und Tränen er-
ein schwarzes Halstuch mit rotem Rand für ihn zum Hochzeitstag, son-      griffen, als sie sahen die ehemalige Braut jetzt in der Gestalt des hinge-
dern als er nimmer kam, legte sie es weg und weinte um ihn und vergaß     welkten kraftlosen Alters und den Bräutigam noch in seiner jugendli-
ihn nie. Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein       chen Schöne, und wie in ihrer Brust nach fünfzig Jahren die Flamme
Erdbeben zerstört, und der siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser   der jugendlichen Liebe noch einmal erwachte; aber er öffnete den Mund
Franz der Erste starb, und der Jesuiten-Orden wurde aufgehoben und        nimmer zum Lächeln oder die Augen zum Wiedererkennen; und wie sie
Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee   ihn endlich von den Bergleuten in ihr Stüblein tragen ließ, als die einzi-
wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische   ge, die ihm angehöre und ein Recht an ihn habe, bis sein Grab gerüstet
und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türken            sei auf dem Kirchhofe. Den anderen Tag, als das Grab gerüstet war auf
schlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein, und     dem Kirchhof und ihn die Bergleute holten, schloß sie ein Kästlein auf,
der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte      legte ihm das schwarzseidene Halstuch mit roten Streifen um und be-
russisch Finnland, und die französische Revolution und der lange Krieg    gleitete ihn in ihrem Sonntagsgewand, als wenn es ihr Hochzeitstag und
fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging auch ins Grab. Napo-      nicht der Tag seiner Beerdigung wäre. Denn als man ihn auf dem
leon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen,        Kirchhof ins Grab legte, sagte sie: “Schlafe nun wohl, noch einen Tag
und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die       oder zehn im kühlen Hochzeitbett, und laß dir die. Zeit nicht lang wer-
Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern         den. Ich habe nur noch ein wenig zu tun und komme bald, und bald
in ihrer unterirdischen Werkstatt. Als aber die Bergleute in Falun im     wird's wieder Tag.” – “Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird
Jahre 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen zwei Schachten eine      sie zum zweitenmal auch nicht behalten”, sagte sie, als sie fortging und
Öffnung durchgraben wollten, gute dreihundert Ellen tief unter dem        noch einmal umschaute.
Boden, gruben sie aus dem Schutt und Vitriolwasser den Leichnam ei-
nes Jünglings heraus, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst a-        Johann Peter Hebel
ber unverwest und unverändert war; also daß man seine Gesichtszüge            J. P. Hebel lebte von 1760–1826. Das “Schatzkästlein des rheini-
und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er erst vor einer    schen Hausfreundes” erschien 181 1. Es ist eine Sammlung von Kurz-
Stunde gestorben und ein wenig eingeschlafen wäre an der Arbeit. Als      geschichten, Anekdoten und Schwanken. Hebel hat diese Prosastücke in
man ihn aber zu Tag ausgefördert hatte, Vater und Mutter, Gefreundete     der Zeit von 1 803 bis 181 1 verfaßt. Die Erzählungen sind volkstüm-
und Bekannte waren schon lange tot, kein Mensch wollte den schlafen-      lich, zugleich enthalten sie viele Anspielungen auf historische Ereignis-
den Jüngling kennen oder etwas von seinem Unglück wissen, bis die         se. Durch die Schauplätze (=Orte) seiner Geschichten, die über ganz
ehemalige Verlobte des Bergmannes kam, der eines Tages auf die            Europa verteilt sind und teils auch in Amerika liegen, und durch die
Schicht gegangen war und nimmer zurückkehrte. Grau und zusammen-          Schilderung faktischer Geschehnisse, wirken seine Geschichten glaub-
geschrumpft kam sie an einer Krücke an den Platz und erkannte ihren       würdig und phantasieanregend zugleich. Er schildert menschliche
Bräutigam; und mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz sank          Schwächen. Oft scheitern Verhaltensweisen wie Geiz, Gewinnsucht und
                                                                          Konkurrenz an der Klugheit eines Einzelnen - z.B. “Die Postillione”;

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