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Er war dennoch unerwartet gefä llig, trug ihr, da er wegen der Schmalheit der
Wege nicht vor das Grundstück fahren konnte, die Tasche bis an die Tür und
verabschiedete sich mit einigen freundlichen Worten. Man soll doch nicht nur
nach dem Aussehen gehen, reute es sie ein wenig, und wieder fiel ihr Joachim,
ihr Sohn, ein, der es in seiner Jugend seines mürrischen Gesichts und schroffen
Wesens wegen nicht leicht gehabt hatte. Sie seufzte mit doppeltem Grund: Das
Bein tat ihr weh, andererseits schmerzte der Gedanke an Joachim. Weshalb hatte
er sie im Krankenhaus nicht besucht, wenigstens einmal hätte er doch kommen
können. Sie hatte ihm geschrieben, er hatte nicht geantwortet. Sollte ihr Brief
ihn nicht erreicht haben? Das war nicht auszuschließen – bei dem Leben, das er
führte. Ü berhaupt war niemand sie besuchen gekommen, all die lange Zeit. Die
Frau von der Volkssolidaritä t, gewiß, die freudliche Frau Danzer, war zweimal
dagewesen, das war sehr nett, zä hlte aber gewissermaßen nicht.
ELFRIEDE BRÜ NING
DAS LANGSAME STERBEN DER ALTEN FRAU HULDA
Das Sterben der alten Frau Hulda dauerte fast ein Jahr. Es begann, wenn man so
sagen kann, genau an dem Tag, als ins Erdgeschoß des Hauses, in dem Frau
Hulda oben die Mansarde bewohnte, die neue Mieterin einzog, das schon leicht
angejahrte „Frä ulein“ Sommer, wie sie von allen gennant wurde, Lehrerin an der
nahen Berufsschule, ein ä ußerlich reizloses, nichtsagendes Wesen, dem man
indes nachrühmte, daß es erstaunlich energisch sei und sich selbst die
schlimmsten Rabauken unter den Lehrlingen rasch gefügig mache. Nun hätte
Frau Hulda, nachgiebig, wie sie von Natur aus war, eine charakterfeste Person
mit starkem Durchsetzungsvermögen, als die ihr die Mieterin geschildert wurde,
kaum zu fürchten gahabt, denn sie war bisher überall mit jedermann gut
ausgekommen. Wenn der bevorstehende Einzug der Fremden sie dennoch aufs
ä usserste beunruhigte, so konnte das nur an ihrem vorgerückten Alter liegen, in
dem man schon den geringsten Abweichungen vom eingefahrenen Tagesablauf
mit Mißtrauen und instinktiver Abwehr entgegensieht.
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12 Er war dennoch unerwartet gefä llig, trug ihr, da er wegen der Schmalheit der Wege nicht vor das Grundstück fahren konnte, die Tasche bis an die Tür und verabschiedete sich mit einigen freundlichen Worten. Man soll doch nicht nur nach dem Aussehen gehen, reute es sie ein wenig, und wieder fiel ihr Joachim, ihr Sohn, ein, der es in seiner Jugend seines mürrischen Gesichts und schroffen Wesens wegen nicht leicht gehabt hatte. Sie seufzte mit doppeltem Grund: Das Bein tat ihr weh, andererseits schmerzte der Gedanke an Joachim. Weshalb hatte er sie im Krankenhaus nicht besucht, wenigstens einmal hä tte er doch kommen können. Sie hatte ihm geschrieben, er hatte nicht geantwortet. Sollte ihr Brief ihn nicht erreicht haben? Das war nicht auszuschließen – bei dem Leben, das er führte. Ü berhaupt war niemand sie besuchen gekommen, all die lange Zeit. Die Frau von der Volkssolidaritä t, gewiß, die freudliche Frau Danzer, war zweimal dagewesen, das war sehr nett, zä hlte aber gewissermaßen nicht. ELFRIEDE BRÜ NING DAS LANGSAME STERBEN DER ALTEN FRAU HULDA Das Sterben der alten Frau Hulda dauerte fast ein Jahr. Es begann, wenn man so sagen kann, genau an dem Tag, als ins Erdgeschoß des Hauses, in dem Frau Hulda oben die Mansarde bewohnte, die neue Mieterin einzog, das schon leicht angejahrte „Frä ulein“ Sommer, wie sie von allen gennant wurde, Lehrerin an der nahen Berufsschule, ein ä ußerlich reizloses, nichtsagendes Wesen, dem man indes nachrühmte, daß es erstaunlich energisch sei und sich selbst die schlimmsten Rabauken unter den Lehrlingen rasch gefügig mache. Nun hä tte Frau Hulda, nachgiebig, wie sie von Natur aus war, eine charakterfeste Person mit starkem Durchsetzungsvermögen, als die ihr die Mieterin geschildert wurde, kaum zu fürchten gahabt, denn sie war bisher überall mit jedermann gut ausgekommen. Wenn der bevorstehende Einzug der Fremden sie dennoch aufs ä usserste beunruhigte, so konnte das nur an ihrem vorgerückten Alter liegen, in dem man schon den geringsten Abweichungen vom eingefahrenen Tagesablauf mit Mißtrauen und instinktiver Abwehr entgegensieht. PDF created with FinePrint pdfFactory Pro trial version http://www.fineprint.com
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